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Kopf hinhalten. In der DDR-Oberliga, hier ein Spiel zwischen dem Halleschen FC und dem 1. FC Magdeburg (mit Uwe Rösler; li.) im Herbst 1989, ging es nicht nur um Tore. Foto: dpa

© picture-alliance / dpa

Hooligans: Warum es bei den Hooligans in der DDR nicht nur um Gewalt ging

In der DDR waren Hooligans irgendwie auch oppositionell. So wie der Schüler aus Halle an der Saale, der nur zum Fußball geht, um einer Frau zu gefallen. Eine literarische Liebeserklärung

Eigentlich war alles ganz einfach. Christel und ich gehörten zusammen, nur wusste sie es noch nicht.

Da war dieser Kuss auf der Jugendweihefahrt. Wir haben im Zug gesessen und eine Flasche gedreht. Als die Öffnung auf mich gezeigt hat, hat sie sich rübergebeugt. Sie hatte auch andere geküsst, aber bei mir, da hat sie die Augen geschlossen.

Ich fand Christels kurzgeschnittene Haare aufregend. Allein deshalb, weil sie ohne diese Attitüde anderer Mädchen auskam, sich stundenlang zu frisieren. Nicht dass Christel frei von Eitelkeiten gewesen wäre. An jedem ihrer Pullover, T-Shirts oder Jacken war an beiden Schultern ein Knopf angenäht. Warum wusste niemand. Unsere stellvertretende Freundschaftsratsvorsitzende, ob ihrer Hässlichkeit am Ende der Pubertät völlig verbittert, behauptete eifersüchtig, Christel würde ihre Schuhe an die Knöpfe binden, damit sie die Beine für die Typen länger breit machen könnte.

Was mich an Christel faszinierte, waren für die Lehrer nur weitere Punkte ihrer Renitenz. Was beim Erscheinungsbild begann, erklärten sie, setze sich im Kopf fort. Nein, Christel, die Mauer wurde gebaut, um unser Land zu schützen. Nein, wir sind nicht eingesperrt. Es ist alles eine Frage der Sichtweise, Christel.

Was Sie nicht sagen!

Das letzte Wort war auch eine Sache, die ihr eigen war und von manchen als Provokation aufgefasst wurde. Ich bewunderte ihren Mut.

Einen Freund hatte sie nicht, trotz vieler Gerüchte. Ich wusste es besser. Ich habe ihren Vater angerufen, einen Chirurgen mit ruhiger Hand (Alkohol) und Telefon. Forsch, so dass ich mich einen Moment nicht wiedererkannte, verlangte ich, Christels Freund zu sprechen. Der Vater lachte nur. Ich solle diese Scherze lassen.

Am nächsten Tag, auf dem Schulhof, hat sie geklatscht. Sie stand wie immer bei den Jungs, die ihre Haare lang wachsen ließen und ihre Zigarette so sanft zwischen den Fingern hielten, als wäre sie eine von Christels Brüsten. Ich hatte für meinen Vortrag eine Eins bekommen. Die sozialistischen Bruderländer und ihre Aufgaben im RGW. Haste gut gemacht. Wirklich.

Für einen Moment dachte ich, sie meinte es ernst, aber dann haben die Langhaarigen gelacht, und in Christels Augen glänzte dieser gallige Spott, der nur schwer auszuhalten war. Im Gegensatz zu den meisten meiner Mitschüler sah ich mich nicht als Rädchen im Getriebe. Dazu war meine Situation viel zu kümmerlich. Obwohl ich ein Schüler war, dem der Unterricht leicht fiel, hatte ich jeden Morgen dieselben drei traurigen Erkenntnisse: Erstens liebte ich ohne Aussicht auf Erfolg, zweitens rangierte ich auf der Beliebtheitsskala ganz unten, und drittens entsprach meine Körper-, Schuh- und Kopfgröße exakt dem statistischen Mittelmaß.

Auf dem Weg zum Stadion schallte der Gesang von den Häuserwänden wider. Rot wie Blut, weiß wie Schnee, wir sind die Fans vom HFC. Kurz vor dem Markt von Halle stießen wir auf eine Gruppe Volkspolizisten. Flaschen flogen aus der Menge. Polizisten suchten Deckung. Eine Flasche traf ein Nasenbein. Aus einer Seitenstraße stürmte Bereitschaftspolizei. Mit Knüppeln gingen sie auf die Fans los. Die Masse geriet in Panik. An einem Bordstein stolperte ich, ging zu Boden. Schuhe und Schienbeine trafen mich im Gesicht. Mein Herz drohte vor Angst auszusetzen. Pisse lief an meinen Schenkeln herab.

Einen kleinen Moment dachte ich an Christels Spott. Wenn sie mich jetzt sehen würde. Ich klammerte mich an jemandem fest, dessen Herz wahrscheinlich ähnlich raste wie meins. Er wollte mich abschütteln und schlug mit den Fäusten nach mir. Ein Trupp Männer, keiner älter als zwanzig Jahre, schob sich den flüchtenden Fans entgegen. Vorweg stürmte ein Mann mit Sonnenbrille und dunkler Kleidung. Entschlossen griffen sie die Knüppelschwinger an. Die Masse kam zum Stillstand. Ich kam endlich auf die Beine und schaute verblüfft zu, wie der Trupp die Uniformierten in die Seitenstraße zurückdrängte.

Das Wochenende war trist. Magdeburg hatte gewonnen. Die Hausaufgaben waren schnell gemacht. Ich wusch meine Hose, las einen langweiligen Abenteuerroman, spielte Schach gegen mich selbst. Meine Eltern gingen ins Theater. Ich drehte die Radioantenne, bis ich die Nachrichten von NDR 2 empfangen konnte. Die Bayern hatten wieder gewonnen. In Jena rumorte es. Menschen begehrten auf. In der Nacht träumte ich von Christel.

Am Montag hatte der Vorfall aus Halle die Schule erreicht. Die Gerüchteküche brodelte, es sollten sogar Schüsse gefallen sein. Ich erklärte, dass das Blödsinn war. Woher willst du das wissen? Warst du dabei? Ich schwieg. Es war mir zuwider, mit denen zu reden, die mich zuvor bei jeder Gelegenheit beleidigt hatten.

Die nächsten Tage beobachtete Christel mich unauffällig. In der großen Pause verließ sie die langhaarigen Raucher und setzte sich zu mir. Nervös blinzelte ich zu ihr. Sollte ich etwas sagen? Sollte ich mir die Haare wachsen lassen? Lange Haare sind eine Haltung. Habe ich eine Haltung? Ich habe einen Zensurenschnitt von 1,1, nur Biologie machte mir Probleme.

Stehen mir lange Haare? Der Sozialismus will, dass alle Menschen gleich sind. Haben dann alle Menschen lange Haare? Wenn ja, dann sind lange Haare keine Haltung mehr. Mein Erlebnis in Halle gab mir Bedeutung. Das wurde mir bewusst, als ich Christels Augen sah, der forschende Blick, der in mir ein Geheimnis vermutete, das sie nie erwartet hätte. Ich kannte ihre Frage, bevor sie sie aussprach.

Wir wehren uns, erklärte ich. Meine Stimme klang etwas schrill. Wir nehmen das nicht mehr so hin, was hier passiert.

Sie schaute zu den Rauchern, die uns mit Blicken belauerten. Die Schulklingel rief zum Unterricht. Christel lachte glucksend auf. Mehr war nicht nötig. Sie glaubte mir nicht. Ich hatte versagt.

Ob Christel ihre Meinung noch ändert, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Beim nächsten Heimspiel hatte sich die Stimmung verändert. Die Masse im überfüllten Bahnhof war angespannt, fiebrig, lauernd. Polizei war kaum zu sehen. Es ging das Gerücht, wir würden gefilmt. Mit Video, ganz neu aus dem Westen. Inmitten der normalen Fans gab es etwa 20 Leute, die in Dreiergruppen und in Reih und Glied nebeneinander herliefen. Ihre stakkatohaften, synchronen Schritte hallten wider. Mit jedem Stampfen schrien sie eine Silbe in die nach Pisse stinkende Tunnelluft.

Saa-le-front.

Ich ließ meine Füße den Rhythmus aufnehmen und trat auf den Beton ein, ohne meine brennenden Sohlen zu spüren. Christel verschwand aus meinem Kopf.

Saa-le-front.

Als wir den Tunnel verließen, war ich im Rausch. Ich strotzte vor Kraft. Ich war übermächtig, Teil eines Organismus.

Saa-le-front!

Mehrere Mannschaftswagen schossen wie auf Kommando in die Masse. Die Besatzungen sprangen ab. Die Reihen der Saalefront lösten sich auf. Sie versuchten unterzutauchen. Einigen gelang es, andere wurden auf die Ladefläche eines Lkws gezerrt. Ein Knüppel traf mich am Kopf. Blut lief mir in die Augen.

Als ich am Montag die Schule betrat, konnte jeder die genähte Platzwunde sehen. Um mich herum wurde getuschelt. Beim Schulessen ließ man mir den Vortritt, einer der Langhaarigen bot mir eine Zigarette an. Ich lehnte ab, um mich vor Christel nicht zu blamieren.

Ich ließ durchsickern, in Halle gewesen zu sein. Es habe eine Auseinandersetzung mit den Ordnungshütern gegeben. Von nun an hatte ich ein Geheimnis. Ich wanderte über den Schulhof, genoss die respektvollen Blicke. Ich wurde zu Feten eingeladen. Zunächst fühlte ich mich unsicher, aber mit jedem Schluck Bier und jeder Frage wurde ich gelöster, offener.

Was ist in Halle los? Gibt es dort eine Gruppe wie in Jena? Gibt es Verbindungen nach Leipzig? Hinter ihren Fragen lag eine Sehnsucht nach Veränderung, nach Aufbegehren, und ich war ihre Quelle.

Wir sind Hunderte, die Bullen trauen sich nicht ran. Die Masse schützt uns. Wir sind organisiert. Wir werden immer mehr. Weitere Aktionen sind geplant.

Welche denn?

Ich lächelte und schaute in ihre gierigen Gesichter. Ihr werdet verstehen, dass ich euch das nicht sagen kann. Sie bedrängten mich und boten mir von dem selbst gebrannten Schnaps ihrer Eltern an.

Die Einzige, die blieb, wie sie war, war Christel. Sie ignorierte mich weiter und spottete, nun aber allein, ohne die langhaarigen Lacher, die jetzt an meinen Lippen hingen. Manchmal trieb ich mich in der Nähe ihres Hauses herum. Vielleicht würde sie rauskommen, wir würden uns wie zufällig treffen, sie würde lächeln und ich mal den Mut haben, sie anzusprechen.

Wie isses denn so?

Das ist aber ein schönes Fahrrad, das du da hast.

Was meinst du? Es reicht nicht, was wir in Halle machen? Ja, vielleicht hast du recht ... Wo könnten wir noch ansetzen? Dein Arbeitsplatz ist dein Kampfplatz? Du meinst die Schule? Eine gute Idee.

Nein, es macht mir nichts aus, wenn du meine Hand nimmst, Christel. Mach ruhig, ich halte dich. Ich weiß doch auch, wie Einsamkeit sich anfühlt.

Ole Giec war in der DDR Arbeiter und ist heute Dramaturg und Autor. Sein Text ist ein gekürzter Vorabdruck aus dem Erzählband „Zonenfußball“ (herausgegeben von Frank Willmann, Verlag Neues Leben, 16,95 Euro). Das Buch wird am Dienstag in Berlin vorgestellt, ab 20.30 Uhr im Kaffee Burger, Torstraße 6.

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