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Konsumverzicht: Das Fräulein Zunder

Da lebt eine ganz so, wie sie es für richtig hält: bescheidener, weniger verschwenderisch. Hanna Poddig lehnt Konsum nicht nur in Gedanken ab – sie bemüht sich auch um Konsequenz.

Winter 2008, eine Februarnacht. Sie lag ganz still auf dem Bahngleis. Nur Selbstmörderinnen könnten jetzt noch weglaufen, selbst im vorletzten Augenblick, wenn die Schienen zu surren beginnen. Erst leise, fern, dann immer näher. So nah, dass es das Bewusstsein zerreißt.

Aber sie war keine Selbstmörderin, sie konnte nicht weg. Ihre Arme steckten fest im Stahlrohr. Und das Rohr steckte fest unter der Schiene irgendwo bei Oster-Ohrstedt in Nordfriesland. Ihre Arme, das Rohr, das Gleis – eine einzige Unauflöslichkeit. Ihr Hirn sagte: Das ist eine Aktion! Das ist alles organisiert. Die Nerven wussten es besser. So erdausgeliefert war sie noch nie. Dabei ist sie eine Bodenflüchterin, verbringt halbe Tage auf Bäumen, klettert in Supermarktcontainer oder aufs Brandenburger Tor. Und dann war das Surren schon in ihr.

Dezember 2010. Hanna Poddig geht voran, über den Hof einer alten, verlassenen Schule mit hohem Dach, die in all dem Weiß doppelt finster wirkt. Wie eine verwunschene Ritterburg mitten in Berlin-Weißensee. Wir sind gleich da, sagt sie. Dieses Fast-noch-Mädchen hält mit ihren kaum 50 Kilo Gewicht nicht nur tausende Tonnen schwere Militärraketen-Züge auf. Sie setzt mit ihrem bloßen Sosein auch die Grundalternative dieser Gesellschaft außer Kraft: Mitrennen um Erwerb und Erfolg – oder Gosse.

Da lebt eine ganz so, wie sie es für richtig hält. Fast schwerelos, fast ortlos. Ohne Arbeit, ohne Hartz IV, fast ohne Geld, dafür mit einer selbst gestellten, selbst gewählten Aufgabe. Wer kann das schon? Wer macht das schon? Dabei denken wir Jetztlebenden mehr über gelingendes In-der-Welt-Sein nach als alle Generationen vor uns. Und an jedem Jahresende doppelt. Welchen Preis zahlt diese Verächterin der Mehrheiten?

In den Fenstern der Weißenseer Neubaublocks leuchten die Jahresendschwibbögen, die Bewohner gehen ihren üblichen Jahresendbeschäftigungen nach, also vor allem Einkaufen. Hanna Poddig schaut auf die Weißenseer und die Illusionen von Heimatlichkeit in ihren Wohnzimmern mit jener Mischung aus Nachsicht und Verachtung, wie man sie für Menschen hat, die ihr Leben lang schlafen. Und deren Wachsein nur eine andere Art des Schlafens ist. Hanna Poddig dagegen hat den Blick der Erweckten.

In diesem dunklen Gemäuer, das einmal eine Schule war, gibt sie gerade Seminare für Miterwachte. Ihr Eröffnungsreferat hieß „Herrschaft – Der Versuch einer Einführung“. Sie nennt diese Art Lehrveranstaltung auch „Anleitung für Berufsrevolutionäre“. Presse unerwünscht. Die Revolutionäre von morgen könnten sich beobachtet fühlen. Aber nun sind die nach Hause gegangen, die Seminarleiterin zieht ihren kleinen roten Mantel enger um sich – sie wirkt für ihren übergroßen Willen beängstigend schmal, ja zerbrechlich – und betritt einen Schuppen.

Er riecht nach alten Kleidern, die ringsum aufgehängt sind, aber es ist wunderbar warm. Auf dem runden Tisch stehen lauter benutzte Tee- und andere Gläser, auf einem Teller sind noch zwei Weihnachtskekse übrig. Sicher sind das vegane Kekse, andere würde Hanna Poddig nicht essen. Sie macht ihr Bett und schiebt es zum Sofa zusammen.

„Das ist ein Umsonstladen“, erklärt sie die Art ihrer Unterkunft. Zu Hause ist sie grundsätzlich da, wo ihr Rucksack steht. Sie würde gern Tee kochen, schaut hinter den Bartresen, aber da ist nur Abwasch. Hanna Poddig nimmt auf der roten Couchlehne Platz – wohl zum Zeichen, dass sie auch hier nur auf der Durchreise ist. Wie man wird, was man ist.

25 Jahre ist sie alt, und schon wollte ein Verlag, dass sie ihre Biografie schreibt. Schwerpunkt: Ernährung. Kochen aus dem Container. „Das habe ich dann aber ganz anders gemacht“, sagt sie. Nicht wie sie lebt, hat sie geschrieben, vielmehr, wie man leben sollte. Eine „Anleitung zum Anderssein“. Aber wer hat sie angeleitet?

„Meine Eltern?“, fragt sie, mehr sich selbst. „Die haben mich als Kind zu jeder Demo mitgenommen. Gegen Müllverbrennungsanlagen, Autobahnen, Kernkraftwerke.“ Hanna Poddig erinnert sich noch an ihre Mutter nach dem Wahlsieg von Rot-Grün: Was die Erfüllung eines Traums werden sollte, wurde zur abgrundtiefen Enttäuschung. Vielleicht hat das Kind, die spätere Nichtwählerin aus Überzeugung, damals schon unbewusst gelernt: Übergib deine Träume niemals Fremden, schon gar keiner Partei!

Und doch, ihre Eltern waren es nicht. Die will sie nicht verantwortlich machen für sich. Vielleicht fing alles mit Christoph an oder mit Moritz, jedenfalls nicht mit den Mädchen ihrer Fast-nur-Mädchenklasse in Schweinfurt. Shoppen gehen, Musik, Kino, Jungs und Frisuren? – „Es hat mich nicht interessiert.“ Mit Moritz hat sie klettern gelernt, mit Christoph lernte sie jonglieren. Und jonglierte dann auf bayerischen Mittelalterfesten die Nächte durch, auch wenn Jongleure nur die Nebenattraktionen blieben. Attraktiver waren die Feuerschlucker: „Zünde an und die Leute finden es toll!“

Sie bemerkte, wie Menschen zu beeindrucken sind. Das Publikum eben, das ewige Publikum des Lebens. Solche wie die Schwibbogen-Weißenseer, die Mädchen aus ihrer Klasse. Aktiv oder passiv sein, sie hat gewählt.

Es klopft. Ein junger Mann steht draußen, barfuß im Schnee bei gefühlten minus zehn Grad. Er gehe dann jetzt, man sehe sich nachher. War das etwa Christoph, der Mitjongleur ihrer Kindheit?

Genau, antwortet Hanna Poddig, der ist auch da. Und nein, Christoph sei nicht erpressbar, auch nicht vom Wetter. Nur wegen der zehn Grad minus fange er nicht an, Schuhe zu tragen. Sie dagegen schon. Barfuß laufen im Winter sei ohnehin schwierig. Der Weißenseer Edeka-Markt hat Christoph gerade hinausgeworfen. Wegen seiner Stiefellosigkeit. Barfuß, das sei zu unhygienisch.

Hanna und Christoph betreten Supermärkte ohnehin vorzugsweise von hinten, wo die Container stehen. Und dann nehmen sie mit, was drin ist. Wenn sie Pech haben, palettenweise Marmelade, Chips oder Schokoosterhasen. Wenn sie Glück haben, Zutaten für ein veganes Festessen. Nicht zuletzt dank Hanna Poddig kennt inzwischen ein größeres Publikum das Wort „Containern“ als Bezeichnung einer Ernährungsalternative. An dieser Stelle erklärt sie im Fernsehen immer, dass diese Waren oft noch nicht abgelaufen sind oder im Müll landen, weil ein Etikett falsch aufgeklebt ist. Diese ganz normale, gewissermaßen „systemimmanente“ Verschwendung empört sie.

Ein paar Feuerschlucker nahmen sie 2002 mit zum Jugendumweltkongress. Und sie machte eine seltsame Erfahrung: „Ich lernte wie im Schlaf! Ich war unendlich aufnahmefähig.“ Während ihr die Schule, wo sie doch lernen sollte, wie ein ewiger Halbschlaf vorkam.

Hanna Poddig lernte, wie alles mit allem zusammenhängt. Verschwendung hier mit Knappheit anderswo, Genpflanzen mit Bauernnot in der Dritten Welt. Und wie relativ alles ist, wie veränderbar auch. Sogar der Unterschied zwischen Männern und Frauen. Das Bundesamt für Strahlenschutz begann, unaufhörlich Broschüren an seine neue, besonders unermüdliche Interessentin zu verschicken.

Es war bald keine Frage mehr, dass sie an den nächsten Castor-Protesten teilnehmen würde. Andererseits: Hanna Poddig, Mutter Krankenschwester, Vater Professor für Elektrotechnik, getrennt lebend, hatte Schule. Die Frage lautete: Sollte sie ein gefälschtes Attest vorlegen? Da beschloss die Schülerin, einen Weg zu wählen, dem sie bis heute folgt: den erbarmungslos direkten. Sie verfasste einen offenen Brief, heftete ihn ans Schwarze Brett ihrer Schule und legte ihn jedem Lehrer ins Fach. Und da sie inzwischen nicht nur die Unterlagen des Bundesamts für Strahlenschutz, sondern auch das Schulrecht gelesen hatte, schrieb sie hinein, dass sie sehr wohl wisse, dass sie schulrechtlich zwar belangbar sei, aber höchstens mit einem Verweis. Sie habe das geprüft. In den Jahren darauf erschien derselbe Brief jeweils mit aktuellen Ergänzungen am Schwarzen Brett.

Am Tag des großen Castor-Transport-Protestes im Wendland 2003 wurde Hanna Poddig 18 Jahre alt. Niemals lernt man besser, prägender, intensiver. Ohne den eigenen Erfahrungen zu vertrauen, wird niemand erwachsen.

Und was für ein Sommer lag hinter ihr: eine Robin-Wood-Floßtour zur Loreley; Moritz, der Kletterer, hatte sie eingeladen. Wieder die Erfahrung, dass es „die Wirklichkeit“ gar nicht gibt, nur verschiedene Perspektiven: „Das Land begann zu schaukeln.“ Nicht auf dem Wasser, erst am Ufer wurde sie seekrank. Dass die ganze Welt seekrank sein könnte – bis zu diesem Verdacht wäre sie damals noch nicht gegangen. Aber dass es im Leben nicht zuletzt darauf ankommt, seine eigene Welle zu sein statt die der anderen, das hat sie sich gemerkt.

Andererseits werden viele Menschen ganz seekrank, wenn sie Hanna Poddig reden hören. Talkshows laden sie ein, gewissermaßen als Stimme aus dem irgendwie wahren, gleichwohl völlig unmöglichen Leben. Sie sagt dann etwa, dass sie „Geld für keine so coole Erfindung“ hält und „die Wachstumslogik für total bekloppt“, genau wie letztlich Staat, Polizei und so weiter. Sie kann diese Dinge auch behutsamer formulieren – „Ich brauche das alles nicht . . .“, aber trotzdem: Die Ferngelebten, die Ausläufer der Fremdwellen fallen dann regelmäßig über sie hier. Natürlich, jeder weiß: Geld ist eine zivilisierende und eine zerstörerische Macht gleichermaßen. Nur wie diese Einsicht leben und all die anderen Widersprüche? Auf der Einheit von Denken und Handeln besteht sie. Manchmal wirkt Hanna Poddig naiv, ohne es zu sein. Sie bekommt nur Luft in herrschaftsfreien Räumen. Und sie will sich nicht wie die mit offenen Augen Schlafenden an die ungeheure Verschwendung der Gesellschaft gewöhnen. Und niemals an die eigene Gleichgültigkeit. Die alte Weltunmittelbarkeit kehrt also immer wieder.

Vielleicht lässt sich Hanna Poddig als Lebensform so erklären: Wir sind, obwohl die klügsten Tiere, doch Kleinweltlebewesen mit Kleinweltseelen geblieben, aber wir haben lauter Großweltlogiken geschaffen. Dieser Zwiespalt ist oft zerreißend. Hanna Poddig hat ihn zum Lebensraum erklärt. Sie bewohnt ihn. Sie wehrt sich in ihm. Sie kultiviert ihn.

Oft trägt sie eine Strafprozessordnung und anderes juristische Schriftgut bei sich oder weiß, wo sie das borgen kann. Wer lebt wie sie, sollte seine Rechte kennen. Etwa das Containern: juristisch eine Grauzone, eigentlich Diebstahl, aber im Wert von null Euro.

Und damals, als im Februar 2008 tausende Tonnen Kriegslast auf Hanna Poddig zurollten, bevor alles im erlösenden Lärm des bremsenden Zuges endete. Die Husumer Polizisten standen genauso ratlos wie die Feuerwehr oder das Technische Hilfswerk vor dem Schienenmädchen. Wie würde man es dort weg bekommen? Niemand wusste es. Nach Stunden die Lösung: Gleis durchtrennen, Gleis anheben, Rohr mit Mädchen dran abstreifen, Gleis flicken. Sie lächelt. Der Vorwurf: „Nötigung“ und „Störung des öffentlichen Betriebs“. Aber rechtsgültig verurteilt ist sie noch immer nicht. „Wir waren nämlich eine Versammlung. Die Polizei hat versäumt, unsere Versammlung aufzulösen. Und das ist wichtig, weil das Versammlungsrecht besonders geschützt ist, höher steht als das Polizeirecht.“ Sie lacht wieder, aber jetzt fast ein wenig traurig. Manchmal denkt sie daran, doch noch zu studieren. Vielleicht Jura. Aber hätte sie an einer Universität je so viel gelernt?

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