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© Mike Wolff

Frauen und Männer: Die Helmbewegung

Früher trugen ihn nur Kinder (gezwungen) und Rudolf Scharping (freiwillig) – und wurden dafür verspottet. Doch plötzlich ist der Fahrradhelm das Must-have dieses Frühjahrs. Wie konnte das passieren?

Viele dürften sich noch an ein Poster aus den 90ern erinnern, vor dem Kinder mit versteinerter Miene stehen bleiben und umdenken sollten. Es zeigte zwei Melonen, die mit voller Wucht auf den Asphalt knallen. Eine der beiden Früchte trug dabei einen Fahrradhelm. Während die schutzlose Melone nach dem Sturz matschig und zerschmettert auf dem Boden klebte, blieb die helmtragende unversehrt. Genau so würde es sich mit dem Kopf beim Fahrradunfall verhalten, war die Botschaft des Plakats. Kinder, tragt einen Helm!

Solch drastische Methoden waren unvermeidbar, denn der Fahrradhelm war damals noch etwas, zu dem man überredet werden musste. Kinder, die dem Drängen der Mutter (seltener: des Vaters) nachgaben und sich mit einem riesigen neonfarbenen Sturzhelm in die Schule trauten, hatten es nicht leicht bei ihren Mitschülern. Sie waren Opfer des „Brustbeutel-Phänomens“ geworden: Es gibt Mütter, die ihrem Kind vor jeder Klassenfahrt einen am Körper anliegenden, unter dem Pullover an einer Schnur um den Hals zu tragenden flachen Brustbeutel zum Geldtransport aufdrängen – während sie selbst natürlich ein offenes Handtäschchen mit Portemonnaie besitzen. So ähnlich also verhielt es sich mit dem Helm: Wenn er so sicher und praktisch war wie von den Eltern behauptet (und die Optik deshalb ja keine Rolle spielen durfte!), warum sah man dann nie eine Mutter, die mit Neon-Sturzhelm selbstbewusst an ihren Freundinnen vorbeiradelte?

Heute dürfte sich diese Frage in den meisten Familien nicht mehr stellen, denn dem Fahrradhelm ist gelungen, was man ihm nie zugetraut hätte: Er ist, wie Soziologen sagen würden, in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Für Kinder längst normal, ist das unansehnlichste aller Schutzbekleidungsstücke auch bei Erwachsenen nicht mehr die Ausnahme. Vor einigen Jahren wäre noch undenkbar gewesen, was man jetzt zu Beginn der Fahrradsaison wieder regelmäßig beobachten kann: Männer mit Hornbrille und Retrorennrad, die die Kastanienallee herunterfahren – und dabei einen Helm tragen.

Dass der Fahrradhelm tatsächlich zum Lifestyle-Accessoire geworden ist, erkennt man auch daran, dass ihn die Träger nach dem Gebrauch nicht mehr verstecken. Wird der hippe Mann mit Hornbrille zum Beispiel an der Tramstation von einem dort wartenden Kollegen angesprochen, verstaut er seine Hartplastikschale nicht verschämt in der Tasche, sondern behält sie souverän auf dem Kopf. Man kann in diesen Tagen sogar frischverliebte Männer sehen, die sich mit einem Kuss von ihrer Liebsten verabschieden und sich danach und im Beisein der Frau ungerührt einen Styroporhelm aufschnallen, um loszuradeln.

Der Helm polarisiert: Entweder man ist dafür oder dagegen

Diese Entwicklung ist erstaunlich, denn immerhin war der Fahrradhelm unter Erwachsenen bis vor kurzem nicht einfach nur ein irgendwie uncooler Gegenstand, sondern ein verlachter, verspotteter! Man verband ihn mit dem glücklosen Rudolf Scharping, mit Softies und Übervorsichtigen. Seine Träger gehörten scheinbar zu einer vernünftig-langweiligen Minderheit mittleren Alters, die Unisex-Mountainbikes fuhr, sich zusammenfaltbare Regencapes um den Bauch schnallte und unentwegt zuzugeben schien: Für Menschen wie uns stellt schon der Alltag eine Gefahr dar. Oder eben: Wir sind zwar erwachsen, aber Mutti passt immer noch auf uns auf. Dass die Helmträger eigentlich die besseren Argumente hatten, war da egal.

Natürlich polarisiert der Fahrradhelm auch heute noch. Entweder man kann mit jemandem zusammen sein, der Helmträger ist – oder die Helmträgerschaft stellt ein Ausschlusskriterium dar. Einer der Partner kauft sich einen Helm, der andere bleibt ohne? Undenkbar! Es gibt auch niemanden, der zu dem Thema keine Meinung hat: Man ist entweder dafür oder dagegen. Bloß, dass die Zahl derjenigen steigt, die dafür sind.

Das klassische Imageproblem des Radhelms hat dennoch gute Gründe und wurde zum Teil von den Herstellern beziehungsweise deren Designern selbst verschuldet. Denn die Diskrepanz ist groß zwischen den meist sehr durchschnittlichen, untrainierten Trägern und Helmen, die eher wie Profi-Equipment für Radsportler daherkommen und nicht wie ein Alltagsgegenstand. Es wirkt immer ein wenig lächerlich, wenn ein Normalo auf einem zweitklassigen Klapprad vorbeifährt, dabei aber einen stromlinienförmigen, aerodynamischen Helm auf dem Kopf trägt. Ein solcher Helm wirkt bemüht und ehrgeizig. Und ehrgeizige Bemühungen stehen nun mal im völligen Gegensatz zum gemütlichen, legeren Radfahren.

In modischer Hinsicht ist der Fahrradhelm immer noch eine Katastrophe. Schöne Helme gibt es einfach nicht, gerade noch duldbare sind zumindest selten. Zum Teil sieht man modisch akzeptable, runde, relativ enganliegende Retrohelme, die an alte Vespahelme erinnern. Diese sind aber keine „echten“ Fahrradhelme nach EU-Richtlinien. Und da jeder „richtige“ Fahrradhelm diesen Richtlinien entsprechen muss, bieten sich wenige Variationsmöglichkeiten. Zudem muss das furchtbarste ästhetische Manko erhalten bleiben: Da ein großer Wert des Radhelms in der Vergrößerung der Knautschzone liegt, wird der Helm immer auffällig und lächerlich hoch auf dem Kopf aufliegen.

Das erklärt natürlich nicht, warum die Helme weiterhin in so aufdringlichen, extravaganten Farben gehalten sind, die den modischen Super-Gau komplett machen. Immerhin geht der Trend weg vom windschnittigen, hin zum runderen Modell. Eine kleinere Verbesserung – obwohl die neuen Varianten Wehrmachtshelmen nicht unähnlich sind.

Wer Bionade trinkt, ist auch empfänglich für den Helm

Auffällig ist, dass gerade Menschen, die sonst viel Wert auf ihre Außenwirkung legen, zur neuen Zielgruppe des Fahrradhelms gehören. Allerdings ist dies nur ein scheinbarer Widerspruch. Denn der Helm passt gut zu anderen Trends, die seit einigen Jahren immer bedeutsamer werden. Insbesondere zur Wellness- und Loha-Bewegung, deren Motto lauten könnte: Ich achte auf mich. Und: Ich gehe mit gutem Beispiel voran.

Wer zum Yoga geht, um Stress abzubauen, wer nur noch Bionade trinkt und in sich horcht, ob er nicht vielleicht doch unter Laktose-Intoleranz leidet, der ist auch empfänglich für einen eher unansehnlichen Kopfschutz. Wenn es gilt, nur noch frisches Obst aus der Region zu essen, wenn die hippesten Läden Birchermüesli verkaufen und die Holzdielen der Altbauwohnung bitte nur mit Naturharz behandelt werden dürfen, dann ist der Helm bloß die logische Folge.

Dabei ist gar nicht so klar, ob Helmträger auf der moralisch richtigen Seite stehen und Radfahren mit Kopfschutz automatisch die sicherere, verantwortungsbewusstere Variante ist. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) spricht sich zum Beispiel gegen eine Helmpflicht aus. Zwar hat es definitiv Unfälle gegeben, bei denen ein Helm schwerere Verletzungen verhinderte. Gleichzeitig, so der ADFC, gebe es aber auch Indizien dafür, dass die Risikobereitschaft von Radfahrern steigt, sobald sie einen Helm tragen. Außerdem vermutet der Verein, dass Autofahrer weniger Rücksicht auf Helmträger nehmen.

Eine Helmpflicht, wie sie sich manche missionarisch veranlagte Helmträger wünschen, würde wohl dazu führen, dass immer mehr Menschen ihr Fahrrad stehen lassen. Denn eben in der unkomplizierten Nutzung liegt der Reiz des Radfahrens. Genau deswegen, so der ADFC, sei eine Helmpflicht in einem Parade-Radfahrerland wie den Niederlanden nie ein Thema gewesen.

Der Helmstreit wird erbittert geführt. Für beide Seiten steht viel auf dem Spiel. Die Gegner verlangen, dass die Notwendigkeit eines Helms erst einmal zweifelsfrei nachgewiesen wird, bevor sie sich mit einer Styropor-Hartschale in der Öffentlichkeit blicken lassen. Mehr zu verlieren hat jedoch die andere Seite. Manche Vertreter der Pro-Helm-Bewegung treten auffällig ernst und dogmatisch auf. Vielleicht weisen sie die Argumente gegen den Helm auch deshalb so brüsk zurück, weil sie die Peinlichkeit bereits hinter sich haben. Wer schon mal mit Helm auf offener Straße stand, will nicht hören, dass derjenige, dessen Frisur auch nach Erreichen des Arbeitsplatzes noch Volumen hat, ebenso sicher ins Büro kam.

Wie demütigend, wenn alles umsonst gewesen wäre.

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