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Urbankrankenhaus: Der Haupteingang

© Kitty Kleist-Heinrich

Psychosen bei jungen Erwachsenen: Stimmen im Kopf

Psychosen treten meist bei jungen Menschen zum ersten Mal auf, oft zwischen 15 und 30 Jahren. In einem Therapiezentrum in Kreuzberg finden sie schnelle Hilfe, als Einstieg in eine längere Behandlung.

Stellen Sie sich vor, Sie stehen in einem gut besuchten Berliner Club und tanzen. Plötzlich beginnt eine Stimme aus den riesigen Boxen, Sie fertig zu machen. Nur Sie und zwar Sie konkret. Während Sie immer mehr Angst bekommen, machen Ihre Freunde und die anderen Clubbesucher weiter wie zuvor und merken gar nichts.

Für die zwanzigjährige Verena Beyer (Name von der Redaktion geändert) hat das Jahr 2014 so begonnen. Seit gut zwei Jahren ist die Berlinerin fast jedes Wochenende tanzen und feiern gewesen. Speed, Ketamin, MDMA, LSD, Kokain hat sie dabei konsumiert. Irgendwann begann sie, Stimmen zu hören, die bedrohlich und erniedrigend auf sie einredeten. Es sind drei unterschiedliche Stimmen.

Stimmen im Kopf, das Gefühl, auch von den engsten Freunden bedroht oder verfolgt zu werden – das sind deutliche Anzeichen für Psychosen. Meistens treten sie zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr zum ersten Mal auf. Sie können unter anderem durch Drogen ausgelöst werden, bleiben aber, je nach Veranlagung, auch wenn die Drogen abgesetzt sind.

Ohne Hilfe haben Menschen mit Psychosen oft große Mühe, ihren Alltag aufrechtzuhalten. Sie ziehen sich selbst von vertrauten Menschen zurück. Ausbildung, Studium oder Arbeit fallen zunehmend schwer. Sie haben Angst, ihre Wohnung zu verlassen, und werden – anders als das Klischee – nicht gegenüber anderen, sondern gegenüber sich selbst gewalttätig. Etwa ein Prozent der Bevölkerung erlebt mindestens ein Mal im Leben eine psychotische Episode, wie die Erkrankungsphasen genannt werden. Wie bei anderen Krankheiten gilt auch für Psychosen: Je früher sie erkannt werden, desto besser lässt sich helfen. Doch aus Scham und Bedenken vor psychiatrischen Einrichtungen holen sich junge Erwachsene häufig erst spät Hilfe.

Das Ziel: Den ersten Kontakt, den die jungen Erwachsenen mit dem Gesundheitssystem haben, zu erleichtern

„Viele Betroffene haben Sorge, ihre Autonomie zu verlieren, wenn sie sich in Hilfe begeben“, sagt Andreas Bechdolf, Chefarzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Vivantes Klinikum am Urban. Seit November 2013 gibt es hier ein Frühinterventions- und Therapiezentrum (FRITZ) speziell für junge Erwachsene. 21 Betten stehen zur Verfügung, es wird auch ambulant behandelt.

Es gebe häufig einen großen Leidensdruck, aber auch das große Bedürfnis, nicht vom Umfeld als „verrückt“ abgestempelt zu werden, sagt Bechdolf. „Wollen Sie die Stimmen behalten oder lieber nicht?“, fragt Bechdolf seine Patienten am Anfang. Die meisten, die ins Therapiezentrum kommen, empfinden die Symptome als unangenehm. Häufig haben sie sich schon lange Sorgen gemacht und bemerkt, dass „etwas nicht stimmt“. Gerade für junge Erwachsene, die in ihren Beziehungen und ihrer Arbeit noch keine gefestigte Rolle für sich gefunden haben, stelle eine Psychose eine große Verunsicherung dar. Die erste psychotische Episode falle oft mit den ersten Versuchen zusammen, ein unabhängiges Leben zu führen. Viele Betroffene haben deshalb das Gefühl, es nicht geschafft zu haben.

Ziel der Arbeit im Therapiezentrum ist es, den Erstkontakt mit dem Gesundheitssystem für diese junge Erwachsenen in psychischen Krisen zu erleichtern und Hemmschwellen abzubauen. In Schulen und bei Veranstaltungen für Angehörige klärt das Team über Symptome von Psychosen und Behandlungswege auf. So sollen schließlich weniger Menschen mit Psychosen erst in einer Akutsituation, zum Beispiel nachts in der Rettungsstelle, das erste Mal Erfahrung mit einer psychiatrischen Einrichtung machen. Lieber mit einem selbst vereinbarten Termin. Auch, dass im Therapiezentrum am Urban nur Erstpatienten aufeinander treffen und nicht auch Menschen, die mit den fortgeschrittenen Folgen jahrelang unbehandelter psychosozialer Erkrankungen und gesellschaftlicher Ausgrenzung zu kämpfen hatten, soll die Patienten ermutigen.

An den Wochenenden: Gymnastik am Landwehrkanal

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© Kitty Kleist-Heinrich

Für Verena Beyer war schließlich ein Gespräch mit einer Freundin ausschlaggebend, Hilfe zu holen. „Ich möchte nicht noch eine Freundin verlieren“, sagte diese und ging mit ihr zu einer Drogenberatungsstelle. Zu diesem Zeitpunkt hatte Verena wegen der Stimmen, die sie mittlerweile von früh bis spät hörte, schon ihre Ausbildung zur Erzieherin abgebrochen. Ihr Zimmer suchte sie nach versteckten Kameras ab. Die Drogenberatung verwies auf das Therapiezentrum. Verena rief dort an, vereinbarte ein Erstgespräch. Am nächsten Tag hatte sie ihren Termin. Auch der Berliner Krisendienst ist ein schnell erreichbarer Ansprechpartner für Betroffene und Angehörige. Auf einen Termin bei einem Psychotherapeuten wartet man in Berlin hingegen oft mehrere Wochen.

Seit zwei Wochen ist Verena Beyer jetzt in dem Zentrum am Urban. Vier bis fünf Wochen dauert durchschnittlich die Behandlung bei der ersten psychotischen Episode. Die Station ist offen. An den Wochentagen gibt es für die Patienten Programm: Gymnastik am Landwehrkanal, in der Ergotherapie etwa Arbeit mit Ton, um bei kreativen Tätigkeiten nach häufig langen Phasen des sozialen Rückzugs auch wieder Erfahrungen in sozialer Interaktion zu machen – und kognitives Training, etwa indem man am Computer einen Ball durch ein Labyrinth manövriert. Es wird gemeinsam gekocht oder ein Museum besucht. Das Wochenende können die Patienten tagsüber gestalten wie sie wollen, am Samstag müssen sie um 22.30 Uhr zurück in der Station sein, am Sonntag um 20 Uhr. In Therapien lernen die Patienten, ihre Krankheit besser zu verstehen und Denkmuster zu erkennen. „Etwas bescheuert“ fühlt sich Verena manchmal dabei. Weil sie ja auch schon vorher wusste, dass ihre Wahrnehmungen nicht der Realität entsprechen. Nur gegensteuern konnte sie in diesen Situationen eben nicht. Das Team von FRITZ versucht an den jeweiligen Stärken und Bewältigungsstrategien anzuknüpfen, die Patienten schon vorher für sich entwickelt haben, sagt Bechdolf.

Schließlich soll die Zeit im Zentrum lediglich die Brücke darstellen für eine längere Behandlung der Patienten und in ein selbst bestimmtes Leben mit der psychischen Krankheit. Dazu gibt es eine Sozialberatung. Dabei werden etwa der Umgang mit möglichen Arbeitgebern besprochen und Vertrauenspersonen im privaten Umfeld gesucht. Gegen Ende der Zeit auf der Station schlafen die Patienten einige Tage wieder zu Hause und kommen tagsüber zurück. „Verwickeln ins Versorgungssystem“ nennt das Bechdolf. Damit soll verhindert werden, dass die Patienten die Behandlung schnell wieder abbrechen. Ohne dieses „Verwickeln“ brechen rund 80 Prozent der jungen Erwachsenen nach einer ersten Behandlung den Kontakt mit den behandelnden Ärzten ab. In speziellen Fällen, wenn Patienten nur zu bestimmten Mitgliedern des Teams Vertrauen gefasst haben und bei Wechsel des behandelnden Arztes ein Therapieabbruch droht, können die Patienten auch weiter dort ambulant behandelt werden.

Die ambulante Behandlung hat Verena Beyer noch vor sich. Nach einem Medikamentenwechsel hört sie ihre Stimmen nur noch sporadisch über den Tag verteilt. Seit sie ihnen weniger Aufmerksamkeit schenkt, haben sie allerdings begonnen, sie auch mit Namen anzusprechen. Sie sind aber leiser als früher. Verena Beyer hofft, dass sie bald ganz verschwinden.

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