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Das Gymnasium der Domspatzen in Regensburg (Bayern). 

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Update

Katholische Kirche: Mindestens 231 Kinder bei Regensburger Domspatzen misshandelt

Von 1953 bis 1992 wurden mindestens 231 Kinder von Priestern und Lehrern verprügelt und etliche sexuell missbraucht - Sonderermittler Ulrich Weber spricht in seinem Zwischenbericht von wesentlich mehr Misshandlungsfällen bei den Regensburger Domspatzen als bisher angenommen.

Bei den Regensburger Domspatzen hat es wesentlich mehr Misshandlungsfälle gegeben als bisher angenommen. Der mit einer entsprechenden Untersuchung betraute Anwalt Ulrich Weber schätzt die Zahl der Betroffenen auf 600 bis 700, wie er am Freitag in Regensburg sagte. Von 1953 bis 1992 seien mindestens 231 Kinder von Priestern und Lehrern des Bistums verprügelt oder sexuell missbraucht worden, sagte der von Bistum und Chor mit der Klärung des Skandals beauftragte Weber.

Clemens Neck, Leiter der Presseabteilung im Bistum Regensburg, wollte den Bericht gegenüber dem Tagesspiegel am Dienstag nicht weiter kommentieren. Er betonte, dass Weber "ja unabhängig vom Bistum und von der Stiftung der Regensburger Domspatzen" arbeite. Da Weber als nächsten Schritt angekündigt hatte, ein Kuratorium am 1. Februar 2016 zu konstituieren, wolle man derzeit nicht durch öffentliche Äußerungen vorgreifen. In dem Kuratorium sollen Gespräche mit Betroffenen und deren Vertretern stattfinden. Es sollen sechs Opfervertreter, zwei Mediatoren, vier Mitglieder des Stiftungsvorstands der Domspatzen, der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer sowie Generalvikar Michael Fuchs teilnehmen.

"Die sexuellen Übergriffe reichten von Streicheln bis zu Vergewaltigungen", berichtet Weber in seinem Zwischenbericht. Der Jurist sprach von einem "System der Angst", das über Jahrzehnte hinweg in der Vorschule der Domspatzen in Etterzhausen und Pielenhofen sowie im Internat in Regensburg geherrscht habe. Schüler seien mit Rohrstöcken und Siegelringen "blutig geschlagen" worden, zudem mussten sie unter Zwang essen oder hätten keine Nahrung erhalten.

Strafrechtlich sind die allermeisten Taten verjährt

"Bettnässern wurde die Flüssigkeitsaufnahme verweigert", erläuterte Weber. Kam es bei sichtbaren Verletzungen zu Ermittlungen, wurden die Mitschüler laut Weber gar zu Falschaussagen gedrängt: "Sie mussten dann von einem angeblichen Treppensturz des Opfers berichten." Strafrechtlich sind die allermeisten Taten verjährt. Bereits vor einem Jahr hatten drei frühere Domspatzen in einer ARD-Dokumentation geschildert, es habe ein regelrechtes Missbrauchssystem gegeben. Weber sagt, die Übergriffe seien intern bekannt gewesen, hätten aber nicht zu personellen Konsequenzen oder strukturellen Veränderungen in der Vorschule des Chores geführt.

Insgesamt werden zehn ehemalige Lehrer und Aufsichtspersonen beschuldigt, Kinder missbraucht zu haben. Die Vorwürfe gegen vier dieser mutmaßlichen Täter hält Sonderermittler Weber "für hochplausibel".

Weber geht davon aus, dass die Dunkelziffer der misshandelten Kinder noch deutlich höher liegt und sich weitere Opfer melden. Er rechnet damit, dass etwa jeder Dritte der rund 2100 Vorschüler zwischen 1953 bis 1992 unter körperlicher Gewalt litt. Wann es zu einem Abschlussbericht kommen wird, sagte er nicht.

Webers Zahlen sind deutlich höher sind als diejenigen, die das Bistum Regensburg im Zuge seiner eigenen Nachforschungen vor rund einem Jahr öffentlich gemacht hatte. Im vergangenen Februar hatte das Bistum mitgeteilt, dass Berichte von 72 früheren Mitgliedern des weltberühmten Chors aus den Jahren 1953 bis 1992 vorlägen, die so schwer geschlagen worden seien, dass von Körperverletzung auszugehen sei. Die Kirche hatte zudem angekündigt, jedem von ihnen eine Entschädigung von 2500 Euro zu zahlen.

Bischof will Missbrauchsfälle nicht an die große Glocke hängen

Am Freitag veröffentlichte das Bistum Regensburg einen Auszug aus der Ansprache von Bischof Rudolf Voderholzer bei der Vesper anlässlich seines Weihejubiläums am 25. Januar 2015. "Sie dürfen mir glauben: Es schmerzt mich und tut mir in der Seele weh: jeder einzelne Fall, hinter dem ja ein Mensch steht, eine Kinderseele in diesen Fällen, schwer gequält, oft für das Leben gezeichnet", heißt es hier. "Ich kann es nicht ungeschehen machen und die Betroffenen nur um Vergebung bitten." Er wolle die Missbrauchsfälle "nicht an die große Glocke hängen", denn es ginge ihm um die Menschen selber. "Aber die Art und Weise, wie die Sache gegenwärtig in der Öffentlichkeit dargestellt wird, nötigt mich, auch öffentlich wenigstens ein paar Sätze dazu zu sagen." Der Bischof wolle weitere Gespräche mit den Opfern führen, allerdings "im Verborgenen". Er bittet weitere Opfer darum, sich bei ihm zu melden und Vertrauen in das Bistum zu haben. "Es steht mir nicht zu, über die Täter zu urteilen oder zu richten. Sie können nicht mehr gehört werden, weil sie gestorben sind. Sie müssen sich vor dem Richterstuhl Christi verantworten."

Es geht auch um den Zeitpunkt, zu dem die Verantwortlichen vom Missbrauch gewusst haben mussten. Im Fokus steht hier Georg Ratzinger, der Bruder von Papst Benedikt XVI. Er war zwischen 1964 und 1994 Domkapellmeister des Knabenchors. Weber ist sich sicher, dass auch Ratzinger von den Misshandlungen wusste. "Er hat davon gewusst. Davon muss ich ausgehen." Der langjährige Chorleiter habe zumindest 1987 von körperlicher Gewalt in Etterzhausen erfahren.

Rechtsanwalt Ulrich Weber spricht am 27.04.2015 in Regensburg (Bayern) während einer Pressekonferenz. Das Bistum Regensburg und die Regensburger Domspatzen wollen den sexuellen Missbrauch von Kindern in ihren Reihen aufarbeiten.
Rechtsanwalt Ulrich Weber spricht am 27.04.2015 in Regensburg (Bayern) während einer Pressekonferenz. Das Bistum Regensburg und die Regensburger Domspatzen wollen den sexuellen Missbrauch von Kindern in ihren Reihen aufarbeiten.

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Weber führte 70 Gespräche mit Opfern. Das Bistum habe ihn bei der Aufklärung stets unterstützt und vorhandene Akten zugänglich gemacht. Er erhielt Einblick in die Geheimarchive, Personalakten des Bistums sowie die persönlichen Notizen des Generalvikars. "Am Anfang meiner Tätigkeit formulierte ich explizit, nicht zu wissen, wie tief das kalte Wasser sei, in das ich springe. Inzwischen sehe ich den Grund und kann abschätzen, wie tief ich zu tauchen habe", berichtet der Jurist recht narrativ auf seiner Website in einem Eintrag vom 14. November 2015.

Viele Opfer seien auch von sich aus auf Weber zugekommen. Der Rechtsanwalt hat innerhalb weniger Monate dreimal so viele Opfer ermittelt wie die Kirche in fünf Jahren. Der Verdacht liegt nahe, das Bistum wolle Informationen verheimlichen oder vertuschen. Das Bistum verortete die Misshandlungen in die Vorschule der Domspatzen in Pielenhofen. Weber bestätigte nun auch Übergriffe in Gymnasium, Internat und Chor in Regensburg.

2010 sprach der Bischof noch von "Einzelfällen"

Über sexuelle Handlungen hätten in Etterzhausen und Pielenhofen zwölf Betroffene berichtet, im Regensburger Internat liegt die Zahl mit 50 deutlich darüber. Nur ein Teil der Fälle weise allerdings eine hohe Plausibilität auf, sagte Weber weiter. Die überwiegende Zahl der Beschuldigungen richtet sich nach seinen Angaben lediglich gegen einen kleinen Kreis von Priestern, Lehrern und weiteren Mitarbeitern. So betreffen die 216 Misshandlungsfälle in Etterzhausen und Pielenhofen zumeist nur fünf Personen. Nach 1992 lägen nur noch Meldungen über körperliche Gewalt und sexuellen Missbrauch vor, erläuterte der Rechtsanwalt, der vom Opferhilfeverein Weißer Ring benannt worden war. Die Vorschule wurde von 1953 bis 1992 von Johann Meier geleitet.

Als die ersten Missbrauchsfälle im Jahr 2010 bekannt wurden, hatte der damalige Bischof Gerhard Ludwig Müller noch von "Einzelfällen" gesprochen. Zudem hatte er die Kirche als Opfer einer Medienkampagne dargestellt. Sein Nachfolger Rudolf Voderholzer hat sich inzwischen bei den Opfern entschuldigt.

Wie die "Süddeutsche Zeitung" berichtet, will das Bischöfliche Ordinariat einen Koordinator einstellen, der den Kinder- und Jugendschutz im Bistum zentral organisiert. Er soll sich auch im Entschädigungszahlungen für die Opfer kümmern und die Präventionsarbeit weiterentwickeln. (mit dpa)

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