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An der Kreuzung von Castro Street und 18. Straße erinnern Fotos an Aids-Tote.

© Lippitz

Welt-Aids-Konferenz 2016: Die revolutionäre HIV-Politik San Franciscos

In San Francisco starben Tausende an Aids. Dann revolutionierte die Stadt ihre Gesundheitspolitik und setzte sich zum Ziel: „Getting to Zero“.

Freitag, 9.50 Uhr, San Francisco, mitten im Homoviertel Castro. In zehn Minuten eröffnet das „Magnet“, eine Ambulanz für sexuell übertragbare Krankheiten. Bereits jetzt stehen 13 Männer davor und schauen auf ihre Smartphones. Sie sind zwischen 25 und 60 Jahren alt, checken Börsenkurse, Facebook-Updates und E-Mails, während sie darauf warten, eine Nachricht zu erhalten, die ihr Leben verändern könnte. Wie sehr, dafür bräuchten die schwulen Männer nur hinunter zur Kreuzung von Castro Street und der 18. Straße zu gucken. An einem Gebäude haben Aids-Aktivisten Fotos von Menschen befestigt, die in den vergangenen Jahren an der Immunschwächekrankheit verstorben sind.

Das schlechte Gewissen ruft

Ein Fußgängerüberweg in den Farben des Regenbogens – das Symbol der schwul-lesbischen Community – führt direkt auf diese Klagemauer zu. Dr. Andy Zysman, 12. Oktober 1993, Bill Thorne, Colin Blakeley. Körnige Schwarz-Weiß-Bilder aus dem Kopierer, auf dem Gehweg liegen Blumen, Wachs von zwei Kerzen tropft auf den Asphalt. Die Toten lächeln von Fotos. Und die Männer vor dem Magnet gähnen. Sie fürchten das tödliche Virus, das die homosexuelle Community überall auf der Welt, aber besonders in San Francisco heimgesucht hat, nicht mehr als den Absturz des Aktienportfolios. Was ist geschehen?

Zehn Uhr. Kellie Freeborn zieht sich Gummihandschuhe über. Sie ist nurse practitioner, eine qualifizierte Krankenschwester, die Patienten behandeln darf. Ihr Akzent verrät sie als britisch. „Morgens kommen die mit dem schlechten Gewissen“, sagt sie. Um diese Uhrzeit haben Patienten noch eine Chance, sich ohne Termin untersuchen zu lassen. Gestern Sex ohne Kondom gehabt? Angst vor HIV? Im Magnet sind diese Männer richtig. Wenn jemand im Warteraum panisch wird, dann höchstens, weil er keinen Geschäftstermin verpassen will. Das HI-Virus hat an Schrecken eingebüßt. Und soll ihn weiter verlieren, wenn es nach dem Programm „Getting to Zero“ geht.

Keine Neuansteckungen mehr

Das hat die Stadt San Francisco Ende 2013 ins Leben gerufen. Damit will die kalifornische Metropole die erste Stadt der USA – und faktisch der westlichen Welt – werden, in der es keine Neuansteckungen mit dem Virus geben soll. „Getting to Zero“ soll vor allem effektiv sein. Wenn jemand in einer Anlaufstelle wie dem Magnet positiv getestet wird, ruft eine Krankenschwester wie Kellie Freeborn die Gesundheitsbehörde an. Ist der Patient nicht privat versichert, schaltet das Amt nun das General Hospital ein. Ein Taxi holt den Patienten ab, in der sechsten Etage des Krankenhauses sprechen dann Sozialarbeiter mit ihm, ein Arzt verschreibt ihm sofort erste Pillen.

Eine dieser Vorsorgemaßnahmen betrifft das in den USA zugelassene Medikament Truvada. Bei täglicher Einnahme soll nach sieben Tagen das Risiko der Ansteckung um 99 Prozent sinken, ermittelte 2012 eine Studie der National Institutes of Health, die britische Proud-Studie kam dieses Jahr auf ein vermindertes Risiko von 86 Prozent. Im Magnet wird Truvada verschrieben. Krankenversicherung oder Stadt kommen für die Kosten auf Das kostet die Kommune bis zu 30 000 Dollar pro Patient im Jahr.

Vorsicht in Berlin

In New York hat nun die Gesundheitsbehörde begonnen, mit dem Medikament zu werben. In London und Berlin setzen Kampagnen noch auf Schutz beim und nicht vor dem Sex. Holger Wicht von der Deutschen Aidshilfe in Berlin begrüßt Truvada als Baustein für eine umfassende Prävention. „Ein Wundermittel ist es nicht“, sagt er. „Es wird das Kondom als einfachstes Mittel zum Schutz nicht ersetzen.“ Offen sei auch die Finanzierung. „Noch hat der Truvada-Hersteller Gilead in Europa keinen Zulassungsantrag für die Verwendung als Prep gestellt.“ Erst danach werden Krankenkassen sich für das Medikament einsetzen.

Als die Krankheit über San Francisco hereinbrach

Ein Regenbogen als Fußgängerüberweg im Castro-Viertel.
Ein Regenbogen als Fußgängerüberweg im Castro-Viertel.

© Alamy

Prep, eine Vorsorgemedizin wie Truvada. Pep, eine Tablette, um das Virus einzudämmen, wenn man ihn sich eingefangen hat. STD, sexually transmitted disease, eine sexuell übertragbare Krankheit. Kleine Pillen, große Gefahr. Vielleicht wirkt sie weniger schlimm, wenn man sie mit Buchstaben abkürzt.

Kellie Freeborn benutzt diese Kürzel täglich. Die Krankenschwester drückt jedem neuen Patienten eine Tablettenbox in Form eines Schlüsselanhängers in die Hand. Den kann er sich um den Hals oder an den Hosenbund hängen.

An der Wand des Warteraums hängen Flyer mit Sprüchen wie „How you fuck is your business. Your health is ours“. Wie ihr vögelt, ist euer Ding. Eure Gesundheit ist unsres. Früher hieß es noch: „Immer Kondome nehmen“. Diese Zeiten sind vorbei.

Anstiftung zum ungeschützten Sex

Kellie musste sich deshalb schon beleidigen lassen. Besonders Männer, die jene tödlichen Zeiten der Aids-Krise in den 80er und 90er Jahren erlebt haben, fühlen sich davon provoziert. Sie werfen der Organisation eine rücksichtslose Propaganda von ungeschütztem Sex vor. „Können wir die Menschen davon abbringen?“ Kellie glaubt nicht daran. Sie schärft jungen Männern ein, dass Truvada nur eine Möglichkeit ist, HIV einzudämmen. Kondome sind eine andere, zumal diese noch vor Syphilis und den Erregern anderer Krankheiten schützen. Ein Teil der Community betreibt seit Jahren ungeschützten Sex. Das wissen die Betreuer aus Umfragen. Hat dieser kein Recht auf die bestmögliche Behandlung? Es geht nicht um moralische Urteile, sondern um medizinische Vorsorge.

So begann es

So sieht die Zukunft aus. Die Vergangenheit kannte schrecklichere Bilder. Diana Jones hat sie gesehen. Die 63-jährige Krankenschwester steht kurz vor der Pensionierung, sie ist Stationsvorsteherin im San Francisco General Hospital. Auf dem kleinen Metallschild an ihrer Brust steht: MED-SFGH-AIDS. Seit 1982 arbeitet sie in dem Krankenhaus, seitdem Aids die Schwulenmetropole an der Westküste erschüttert hat. 1982 wurde sie für die Intensivstation eingeteilt, kurz nach dem Ende ihrer Ausbildung. Zu jener Zeit begannen diese seltsamen Notfälle einzutrudeln, junge Männer mit plötzlichen Schwächeanfällen. Niemand wusste, was diese Krankheit auslöste oder wie man sich anstecken konnte. „Es herrschte viel Angst“, sagt Diana Jones.

Hausmeister, Krankenschwestern, sogar einige Ärzte weigerten sich, in die Nähe der Patienten zu kommen. Die schwulen Männer mussten sich hochnotpeinlichen Verhören über ihr Sexualleben unterziehen, welche Sexualpraktiken sie bevorzugten, wo sie ihre Partner fanden, und wenn Diana Jones das erlebte, schritt sie ein, outete sich als Lesbe, half den geschwächten Männern und schimpfte mit dem unsensiblen Personal.

Ward 86 war die Station für Aids-Kranke

Im Januar 1983 wurde eine gesonderte Abteilung für diese Patienten eingerichtet. Ward 86 war der ambulante Arm, Station 5B der stationäre. 34 Betten hatte die Intensivstation, die Hälfte mit HIV-Patienten belegt, zwei bis drei Männer starben pro Nacht. Insgesamt forderte die Krankheit rund 15 000 Menschenleben in San Francisco. Diana Jones badete junge Männer, die sich nicht mehr aufrecht halten konnten, wechselte die Laken, weil bei jedem Patienten irgendwann der Durchfall kam, und kümmerte sich heimlich um die verbliebenen Partner, die offiziell keinen Zugang zur Station hatten. Dorthin durften nur Familienmitglieder – und die wussten in jenen Jahren oft gar nicht, dass ihr eigenes Kind homosexuell war.

Testament über Nacht

Diana Jones erinnert sich an einen Fall. 1984 oder 1986? Die Jahre verschwammen im täglichen Ringen mit dem Tod. Einer der Patienten bestand darauf, seine Eltern nicht zu kontaktieren. Der zuständige Arzt tat es trotzdem. Ohio, Mississippi, Iowa, in irgendeinem weit entfernten Bundesstaat klingelte nachts das Telefon, und eine verängstigte Familie buchte ein Flugticket nach San Francisco. Der Sohn erfuhr davon, er hatte schon entschieden, nicht mehr an das Atemgerät angeschlossen zu werden und sein Erbe anwaltlich zu regeln. Keiner der Männer hatte damals ein Testament aufgesetzt, wer tat das schon, wenn er in den frühen Dreißigern war. Diana Jones rief abends einen Freiwilligenanwalt aus der schwulen Community, das gemeinsam geführte Geschäft wurde auf den gesunden Partner umgeschrieben.

Lachen aus Verzweiflung

Um zwei Uhr morgens setzte ein Notar seine rechtsgültige Unterschrift unter die Papiere. Um vier Uhr morgens saßen die Freunde am Bett des Patienten, dessen Gesichtsfarbe nun blasser wurde. Er schluckte und murmelte: „Sorry, ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll.“ Alle lachten aus Verzweiflung, ein letztes Mal, einige Minuten darauf war der Mann verstorben, bevor seine Eltern ihn noch einmal sahen. „So war das in den 80er Jahren“, sagt Diana Jones. Sie kennt die Zahlen der Gesundheitsbehörde, die für San Francisco heute gelten. Sechs Prozent wissen nicht, dass sie mit HIV infiziert sind, 65 Prozent der Infizierten werden inzwischen mit Suppressionsmedikamenten behandelt, bei 30 Prozent von ihnen ist der Virus vollständig unterdrückt – aber er ist nicht verschwunden. Denn Aids ist nicht heilbar.

Wie es ist, mit dem Virus zu leben

Blick auf das Epizentrum des homosexuellen Lebens in San Francisco: die Castro Street.
Blick auf das Epizentrum des homosexuellen Lebens in San Francisco: die Castro Street.

© mauritius images

Und weil Diana Jones das alles weiß, kämpft sie dafür, Truvada nicht zu stigmatisieren. Macht die Pille schwule Männer zu rücksichtslosen Sexualpartnern? Diana Jones schüttelt den Kopf mit den grauen Locken, die hinten ein Zopfband zusammenhält. Das habe man von der Anti-Baby-Pille in den 60er Jahren auch behauptet: dass Frauen nun zu promisken Raubtieren mutierten. Diana Jones hat mit ihrer Frau eine Tochter im Teenageralter. Die hat sie neulich noch mal daran erinnert, wie sie an Anti-Baby-Pillen herankäme. Hätte sie einen Sohn, würde sie ihn über Truvada aufklären.

Einzigartige Aussicht

Von ihrem Stationsfenster hat Diana Jones einen spektakulären Blick – hinweg über das Viertel Dolores, das gerade die Besserverdienenden entdecken, über das Häusermeer der Stadt bis hin zur Golden Gate Bridge, die an diesem klaren Sonnentag rot am Horizont blitzt. Für viele Patienten war diese Aussicht vor 30 Jahren die letzte ihres kurzes Lebens – heute stehen auf der ambulanten Station zwei Betten, in denen selten ein Kranker liegt. Jemand, der den Schrecken der Vergangenheit und die Hoffnung der Zukunft in einer Person verkörpert, ist Jeff Sheehy. Der 58-Jährige lebt seit 1988 in San Francisco, er hatte sein Coming-out Ende der 70er Jahre und wuchs anschließend in eine Community hinein, die um ihn herum starb. „Ich rechnete nicht damit, 40 Jahre alt zu werden“, sagt er.

Die Straße war ein Krankenhausflur

Er erinnert sich daran, wie er vor 25 Jahren die Castro Street entlangging und ihm junge Männer entgegenkamen, die wie alte aussahen. Sie hatten dunkle Kaposi-Sarkome im Gesicht, manche schoben einen Ständer mit dem Stomabeutel für den künstlichen Darmausgang vor sich her. Die Straße war ein Krankenhausflur, die Bars eine sich leerende Notaufnahme. Wenn Jeff Sheehy in Clubs ausging, bemerkte er jedes Wochenende, wie „Männer einfach von der Tanzfläche verschwanden“. An Jeff Sheehy wirkt alles ein wenig überdimensioniert. Er ist groß, beinahe zwei Meter, und als er sich in seinem Nachbarschaftscafé in Glen Park auf einen Hocker setzt, muss er erst einmal den Tisch wegrücken. Seine Knie würden sonst nicht unter die Platte passen.

Ein bürgerliches Leben

Er ist verheiratet, die zehnjährige Tochter, die er mit seinem Mann adoptiert hat, geht zum Ballettunterricht, und Sheehy hat einen Job an der University of California. Er ist der Pressesprecher der „Getting to Zero“-Kampagne. Sheehy führt das bürgerliche Leben, das er sich nie hätte vorstellen können.

Der Texaner engagierte sich in den 90er Jahren im Kampf gegen die Stigmatisierung von Aids-Kranken, verklagte Firmen, die für die homosexuellen Partner ihrer Mitarbeiter medizinische und Altersvorsorge ausschlossen – und gewann.

Sheehy wusste alles über die tödliche Krankheit, wie man sich schützt und wo man Hilfe bekommt. Das bereitete ihn nicht darauf vor, wie es ist, mit HIV zu leben. Er steckte sich 1996 mit dem Virus an, als ein Kondom platzte.

„Ich wollte es einfach nicht wahrhaben“, sagt er. Monatelang ging er nicht zum Arzt, obwohl er alle typischen Symptome hatte: Er verlor Gewicht, seine Hautfarbe wurde aschfahl, er litt ständig unter Fieberattacken. Ausgerechnet als er 1997 auf eine Aids-Konferenz fuhr, nahm ihn ein Freund beiseite und sagte: „Lass dich testen!“

Eine fast erfüllte Prophezeiung

Er war 39 und positiv. Beinahe wäre seine jugendliche Prophezeiung, nicht älter als 40 zu werden, in Erfüllung gegangen. Zu seinem Glück begannen die Ärzte bereits, den Erreger mit starken Medikamentencocktails in Zaum zu halten. Aber auch mit Nebenwirkungen: Jeff Sheehy klagt bis heute über einen tauben Fuß. Die Behandlung wurde effektiver, als um die Jahrtausendwende Tabletten auf den Markt kamen, die ein Patient nur einmal am Tag einnehmen musste und die das Virus nachhaltig unterdrückten. Jeff Sheehy kämpft dafür, dass junge Menschen sein Schicksal nicht teilen müssen. „Vom ersten Tag an müssen wir das Virus bekämpfen“, sagt Jeff Sheehy. Deshalb sei es so wichtig, dass alle Erkrankten sofort Medikamente bekämen und ihre Partner womöglich Vorsorgetabletten.

Im Sommer verkündete das Gesundheitsamt von San Francisco, dass es im vergangenen Jahr 302 Neuansteckungen gegeben habe, ein Rückgang von 17 Prozent. Es ist die niedrigste Zahl seit Ausbruch der Aids-Epidemie Anfang der 80er Jahre. 177 Menschen sind 2014 an Aids gestorben, 32 weniger als im Vorjahr. Der „San Francisco Examiner“ urteilt über „Getting to Zero“: „Die Strategie funktioniert.“

Der Text erscheint im gedruckten Tagesspiegel in der Sonntags-Beilage. Mehr LGBTI-Themen gibt es auf dem Queerspiegel, dem queeren Blog des Tagesspiegels. Themenanregungen und Kritik gern im Kommentarbereich etwas weiter unten auf dieser Seite oder per Email an: queer@tagesspiegel.de. Twittern Sie mit unter dem Hashtag #Queerspiegel – zum Twitterfeed zum Queerspiegel geht es hier.

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