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Wirtschaft: Aufstieg und Fall eines englischen Traums

NORTH TYNESIDE .Als die deutsche Siemens AG beschloß, in der verarmten Region North Tyneside eine Halbleiterfabrik zu bauen, waren die Anwohner außer sich vor Freude.

NORTH TYNESIDE .Als die deutsche Siemens AG beschloß, in der verarmten Region North Tyneside eine Halbleiterfabrik zu bauen, waren die Anwohner außer sich vor Freude.Während sie auf dem vorgesehenen Bauplatz - einem 41 Hektar großen Kornfeld - Champagner tranken, beglückwünschten sie sich gegenseitig dazu, den ersten großen internationalen Investor angesiedelt zu haben.Die Siemens-Investitionen in Höhe von 1,1 Mrd.Pfund sollten 1000 Arbeitsplätze in der Fabrik schaffen und weitere 1700 bei mehr als 80 anderen Unternehmen, angefangen von Reinigungsunternehmen für die Arbeitskleidung bis zu Landschaftsgärtnern.Diesen Herbst hat Siemens einen Rückzug gemacht: Wegen des starken Einbruchs im Halbleitermarkt hat das Unternehmen nach nur 15 Monaten Betriebstätigkeit die Fabrik geschlossen.Siemens will sich nunmehr auf seine andere Chip-Fabriken in den USA, Taiwan, Frankreich und Deutschland konzentrieren."Jeder hatte dasselbe Gefühl", erinnert sich Mike Halsey von der Stadtverwaltung."Warum haben wir uns so abgemüht?"

"Es tut mir außerordentlich leid, aber ich sehe keine andere Lösung", sagt der Siemens-Vorstandsvorsitzende für den Halb-leiterbereich, Urlich Schumacher.Umdisponieren wird zur zweiten Natur von High-Tech-Unternehmen angesichts der sich schnell ändernden Branche und einer unsicheren internationalen Finanzlage.Allein in Großbritannien überdenkt man eine große Anzahl von High-Tech-Investitionen oder nimmt sogar davon Abstand.In den vergangenen Wochen haben Fujitsu, National Semiconductor, Northern Telecom und Viasystems ihre englischen Betriebsstätten verkleinert oder sogar geschlossen.

Auch wenn die Verluste für Siemens und andere Investoren hoch sind, steht für die Menschen, die von der Investition profitieren sollten, noch mehr auf dem Spiel.Denn letztere haben nicht nur Geld eingesetzt, sondern auch Karriere, Bildung und Familie auf Siemens ausgerichtet; für viele von ihnen war Siemens eine ökonomische Rettungsleine gewesen.

Großbritannien hat Anfang der 80er Jahre begonnen, um internationale Investoren zu werben.Man hat Direktinvestitionen im Volumen von mehr als 140 Mrd.Pfund nach Großbritannien geholt, wobei der Anreiz für die nicht-britischen Unternehmen vor allem die flexiblen Arbeitskräfte, niedrige Lohnsätze und schwache Gewerkschaften waren.Einer der erfolgreichsten Investitionsstandorte Europas ist dabei der englische Nordosten, der 520 Projekte mit einem Investitionsvolumen von 8,8 Mrd.Pfund und 75 000 Arbeitsplätzen auf sich vereinigt.Deutschland, eine Reihe osteuropäischer Staaten und andere Länder sind nach Großbritannien gefahren, um vor Ort die erfolgreichen Methoden zu studieren.Das erste Vorzeigemodell im Nordosten ist die Fabrik von Siemens, ein metallgrauer Komplex, der die Landschaft dominiert, sagt der Gewerkschaftsführer aus dem Ort, Davey Hall.

David Bowies hat im Sommer 1995 alles stehengelassen, als er erfuhr, daß Siemens eine Fabrik für DRAM-Chips - die damals heißeste Sache in der Chip-Branche - bauen wollte.Bowies, Direktor der Entwicklungsgesellschaft Northern Development, nahm an Hunderten von Treffen in München und Newcastle teil, um die Region einzubringen.Er ist abends mit dem Siemens-Vorstandsvorsitzenden für England in Newcastle weggegangen.Seine Kollegen haben Siemens-Manager herumgefahren, um sich Schulen und Häuser anzusehen und sie anschließend mit nach Hause genommen.

Ende Juni 1995 berief Siemens ein großes Treffen in Schloß Lumley, nahe Durham, ein und preßte von seinen Gastgebern noch letzte Zugeständnisse ab, sagt John Foster, der damalige Direktor vom North Tyneside Council.Wenige Tage darauf gab Siemens seine Entscheidung für Tyneside bekannt.Bowles und sein Team haben die Champagnerflaschen geköpft, die Siemens-Manager tranken Bier.Sie hatten allen Grund zum Feiern.Wegen des Rückgangs bei Kohl, Stahl und Schiffsbau bewegt sich die Arbeitslosenrate im englischen Nordosten bei 9,1 Prozent.Siemens hat "ein Loch gefüllt, das der Zusammenbruch der traditionellen Industrien der Region geöffnet hatte," sagt John Tomaney, Professor für Stadtplanung an der Newcastle Universität."Die Fabrik von Siemens symbolisierte den Übergang von der alten Industrie zur neuen High-Tech-Industrie."

Beteiligte schätzen, der Staat habe mit insgesamt 60 Mill.Pfund an öffentlichen Mitteln die Fabrikansiedlung gefördert.Zusätzlich zur Steuerbefreiung, bewilligte die damals konservative Regierung Siemens 30 Mill.Pfund.Außerdem hatte der Tyneside Training and Enterprise Council 2,4 Mill.Pfund für die Ausbildung der Arbeiter bereitgestellt sowie Tyne & Wear Development 350 000 Pfund locker gemacht, um einen Lehrstuhl für Mikroelektronik zu sponsern.Der Grad der Subventionen "lag nahe am Maximum, an das man gehen konnte", sagte ein Regierungsmitglied.

Innerhalb von eineinhalb Jahren war die Fabrik fertig.Die Zeitungen berichteten ausführlich, als Königin Elizabeth II im Mai 1997 nach Newcastle reiste, um das Band zu durchtrennen.Sie schlurfte in speziellen Pantoffeln herum, um die Räume zu schützen."Der Tag war herrlich," seufst Madeleine Rourke, eine Vertreterin der regionalen Verwaltung.

Doch bald geriet die Halbleiterbranche in eine schwierige Situation.Die meisten großen Chiphersteller in Südostasien hatten ebenfalls mit der DRAM-Herstellung begonnen, was zu einem Überangebot führte.Der Zusammenbruch der asiatischen Volkswirtschaften verstärkte die Krise, indem Preise und Nachfrage weiter sanken.27 Dollar war ein Megabyte wert, als Siemens sich entschloß, eine Fabrik in North Tyneside zu bauen.Als es die Fabrik in Betrieb nahm, war ein Megabyte nurmehr vier Dollar wert; im diesem Sommer nicht einmal mehr zwei Dollar.Der Halbleiterbereich bei Siemens wird voraussichtlich in diesem Jahr einen Verlust von mehr als einer Mrd.DM bilanzieren.

Nach der Bekanntgabe der Betriebsschließung versammelten sich die fassungslosen Angestellte in der Cafeteria.Viele von ihnen waren erst vor kurzer Zeit in die Gegend gezogen, angelockt von den hohen Löhnen und großzügigen Angeboten."Ich glaube, niemand wußte, was er tun sollte", sagt David Milne, ein 22jähriger Labortechniker, der vor zwei Jahren seinen Job aufgegeben hatte, um zu Siemens zu gehen.Noch ist unklar, wieviele Menschen ihren Arbeitsplatz im Zuge der Fabrikschließung verlieren werden.Siemens hat 30 Prozent seiner North Tyneside-Angestellten Wechselangebote gemacht; aber viele von ihnen sind einheimische Männer mit Familien.

Einige meinen, die Fabrikschließung sei kein Problem.Die Region habe gelernt, mit Projekten solcher Größenordnung wie dem Siemens-Werk umzugehen.Daher sei sie jetzt in der glücklichen Lage sei, andere multinationale Unternehmen, die international expandieren wollen, in die Region zu bringen.

MATTHEW ROSE

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