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Immobilien: „Die wollen keine Wohnung von der Stange“

Immer mehr Menschen schließen sich in Berlin zu Baugemeinschaften zusammen

Eine ganz normale Eigentumswohnung war Konrad Retzer (43) und Edith Maria Balk (39) schlichtweg zu teuer. So taten sie sich mit Gleichgesinnten in einer Baugruppe zusammen und errichteten gemeinsam ein Mehrfamilien-Niedrigenergiehaus in der Friedrichshainer Bänschstraße. Durch den Wegfall der Vertriebs- und Vermarktungskosten, die normalerweise beim Erwerb klassischer Bauträger-Eigentumswohnungen fällig werden, sparte die 45-köpfige Berliner Baugemeinschaft annähernd 30 Prozent ein. Während Käufer in Berlin für eine Eigentumswohnung in innerstädtischer Lage 3000 Euro und mehr pro Quadratmeter berappen müssen, liegen die Quadratmeterpreise für Baugruppenwohnungen in der Regel zwischen 2000 bis 2500 Euro und damit deutlich unter dem üblichen Marktpreis.

Rund hundert sogenannte Baugruppen-Häuser zählt die Hauptstadt derzeit. Zwei Drittel davon befinden sich in innerstädtischen Lagen, allen voran in den wachsenden Stadtteilen Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Es gibt Websites wie www.wohnprojekte-berlin.info oder www.wohnportal-berlin.de, über die sich Berliner Baugruppenprojekte in allen Einzelheiten vorstellen und potenzielle Mitstreiter suchen.

Immer mehr Architekten entdecken den lukrativen Markt für sich und spezialisieren sich ausschließlich auf Baugruppenprojekte. Und ein Ende des Trends ist nicht absehbar. Die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung schätzt die Zahl derer, die sich an einer Baugemeinschaft beteiligen wollen, auf rund 60 000 Personen und 18 000 Haushalte.

Um dem enormen Bedarf nachzukommen, stellt sie seit 2008 jährlich fünf Grundstücke aus dem Liegenschaftsfonds explizit für Baugruppen ab. Das sogenannte „Festpreisverfahren“ erlaubt Baugemeinschaften, die ausgewiesenen Grundstücke zum Verkehrswert zu erwerben. Den Zuschlag bekommt diejenige, deren Konzept soziale Angebote wie etwa die Integration einer Kindertagesstätte oder auch den Einsatz ökologischer Baustoffe nachweisen kann. Auch deshalb soll das Festpreisverfahren potenzielle Baugemeinschaften vor dem Zugriff womöglich finanziell potenterer Großinvestoren schützen.

Seit Frühjahr 2008 gibt es zudem eine Beratungsstelle für Baugruppen, die sogenannte „Netzwerkagentur Generationen Wohnen“. Sie soll potenzielle Baugemeinschafts-Interessenten zusammenführen, „sie in puncto Finanzierung, der Wahl der richtigen Rechtsform oder auch bei Meinungsverschiedenheiten unterstützen“, erklärt Theo Killewald, Geschäftsführer der ausführenden „Stattbau Stadtentwicklungsgesellschaft“ und Leiter der Netzwerkagentur. Der 60-Jährige registrierte allein im vergangenen Jahr rund 400 Anfragen von Interessenten und 80 seitens bereits existierender Baugruppen.

Dabei scheinen sich die Bewohner von denen aus den Bau- und Wohngruppen der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die vornehmlich aus der Hausbesetzerszene stammten, deutlich abzuheben. Zwar bekennen sich die meisten von ihnen auch heute noch zu demokratischen Entscheidungsprozessen und sozialer Verantwortung im Kiez. „Doch ehemalige Konsensregeln wie etwa das gemeinschaftliche Nutzen ganzer Wohneinheiten sind mittlerweile in den meisten Baugruppen-Häusern Schnee von gestern“, sagt der „Stattbau“-Mann. Vielmehr sind es die großen Kosteneinsparungen, aber auch der zunehmende Wunsch nach Individualität, der Menschen heutzutage in Baugruppen treibt. „Die wollen meist keine Wohnung von der Stange“, weiß Killewald. Längst spiegelt sich in Baugruppen ein neues, meist linksliberales Bürgertum wider, das sein Lebensumfeld aktiv und selbstbestimmend mitgestalten will. Der alte Spruch „Lieber ein Haus besetzen als besitzen“ hat endgültig ausgedient.

Gut fünf Jahre – inklusive Vorbereitungs-, Planungs- und Bauphase – vergingen, ehe die Friedrichshainer Baugemeinschaft ihr Mehrfamilien-Niedrigenergiehaus im vergangenen Sommer beziehen konnte. In dieser Zeit wurden rund 70 Entscheidungen per Abstimmungsverfahren mit Zweidrittelmehrheit getroffen. „Schließlich mussten wir uns verständigen, ob etwa Kunststoff- oder Holzfenster, Spiegel oder keine im Aufzug eingebaut werden sollen“, erinnert sich Konrad Retzer an den oft mühsamen Entstehungsprozess. „Immer mal wieder“, fährt der Berliner fort, sei es zu Meinungsverschiedenheiten, Diskussionen und sogar Streitereien unter den 19 Bauherrenparteien gekommen. Einmal musste sogar ein Mediator zwischen den einzelnen Parteien vermitteln.

Ein guter Architekt sowie ein Projektentwickler, der weiß wo der Schuh bei Baugemeinschaften drückt und gegebenenfalls vermitteln kann, „ist daher sehr ratsam“, rät Retzer.

In Sachen Baugruppen ist die Hauptstadt noch ein Nachzügler. In Freiburg – der Hochburg der deutschen „Baugruppenbewegung“ – stehen allein 250 der insgesamt 300 Baugemeinschaftsimmobilien in den neuen Stadtteilen Rieselfeld und Vauban. Im 160 Kilometer entfernten Tübingen sind es mehr als 150. Die Hansestadt Hamburg zählt dagegen rund 100 Baugruppenhäuser. Grundsätzlich gibt es in fast allen deutschen Großstädten inzwischen Baugruppenhäuser.

Konrad Retzer und Edith Maria Balk werden auch in Zukunft Kosten sparen. „Unser Passivhaus produziert im besten Fall mehr Energie als es verbraucht“, freuen sich die Berliner.

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