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Seit dem Pisa-Schock von 2001 hat sich der Unterricht kontinuierlich gewandelt.

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Praktischer Schulstoff: Bildung ist die halbe Miete

Die Kritik an realitätsfernem Unterricht der Schülerin Naina auf Twitter befeuert die Debatte über Lerninhalte. Verbände fordern ein Fach Ökonomie. Lehrer fürchten Beeinflussung durch Unternehmen.

Non vitae, sed scholae discimus - nicht für’s Leben, sondern für die Schule lernen wir: Das Zitat des römischen Autors Seneca gilt offenbar auch noch in der Neuzeit, wie der viel diskutierte Tweet einer Kölner Schülerin belegt. Unter dem Nutzernamen „Naina“ beschwerte sich die 17-Jährige kürzlich via Twitter darüber, dass die ihr vermittelten Unterrichtsinhalte kaum praktische Lebenshilfe bieten: „Ich bin fast 18 und hab’ keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.“

Deutschlands Schüler – ein Haufen von Theoretikern mit zwei linken Händen? Tatsächlich spricht einiges dafür, dass viele von ihnen mit dem Schulstoff in der Praxis recht wenig anfangen können. Die im April 2014 veröffentlichte Sonderauswertung der letzten Pisa-Studie ist ein Beispiel dafür, wie wenig praktische Fähigkeiten Jugendliche aus der Schule mitbringen. Mit Alltagsproblemen des 21. Jahrhunderts tun sich deutsche Jugendliche demnach schwerer als ihre Altersgenossen in Australien, Finnland oder Südkorea. 20 Prozent der bei Pisa getesteten deutschen 15-Jährigen sind etwa damit überfordert, eine U-Bahn-Fahrkarte am Automaten zu lösen. Nur 13 Prozent der deutschen Jugendlichen waren in der Lage, komplexe Aufgaben zu bewältigen, sich etwa die Bedienung von für sie neuen technischen Geräten eigenständig zu erschließen.

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Die Bildungsforscher stellten zwar fest, dass praktische Problemlösungskompetenz offenbar nicht in der Schule erworben werde. Gleichwohl könnten Schüler mit guten Leistungen in Mathematik, Lesen und Naturwissenschaft auch technische Aufgaben besser bewältigen. OECD-Experten empfahlen deutschen Schulen mehr Projektarbeit und mehr Raum für selbstständiges Arbeiten.

Gelerntes klug anwenden zu können

Aus der Sicht der deutschen Wirtschafts- und Berufsverbände fehlt den Schülern vor allem eine adäquate Berufsorientierung und ökonomisches Grundwissen. „Wirtschaft kommt an den Schulen zu kurz“, sagt etwa Alexander Legowski, Sprecher des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH). Dabei wisse man aus zahlreichen Schulversuchen, dass eine frühzeitige Berufsorientierung mit Praktika in Unternehmen den Jugendlichen nicht nur Perspektiven aufzeige, sondern die Schüler viel mehr motiviere als theoretische Kenntnisse.

Donate Kluxen-Pyta, stellvertretende Leiterin der Bildungsabteilung bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), fordert ein Schulfach Wirtschaft, das Theorie und Praxis vereint. „Bildung heißt, Dinge einordnen und sich ein Urteil bilden zu können“, sagt sie. Derzeit würde ökonomisches Wissen eher häppchenweise im Geschichts-, Gemeinschaftskunde- oder Ethikunterricht vermittelt. Schule müsse aber vielmehr ein „Wissensgerüst“ rund um die soziale Marktwirtschaft liefern. „Da gibt es eindeutig Nachholbedarf.“

Auch wenn es sicherlich noch einiges zu tun gibt: Seit dem Pisa-Schock von 2001 hat sich der Unterricht bereits kontinuierlich gewandelt. Der Erwerb von Kompetenzen ist in den Mittelpunkt der Lehrpläne gerückt. Dabei geht es gerade darum, Gelerntes klug anwenden zu können, wie Petra Stanat, Direktorin des Berliner Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, sagt: „Es soll nicht mehr träges Wissen produziert werden. Vielmehr geht es um kognitives Handwerkszeug, das auch dazu angewendet werden kann, Probleme im Leben zu lösen.“ So werde in einem kompetenzorientierten Matheunterricht Prozentberechnung nicht mehr einfach stur auswendig gelernt. „Schüler sollen das Prinzip verstehen und in die Lage versetzt werden, es flexibel anzuwenden“, sagt Stanat, „eben etwa bei der Berechnung von Zinsen, Schulden, Preisen.“ Und wer über ein gutes Leseverständnis verfüge, sei auch in der Lage, sich Ausführungen über das Steuersystem zu erarbeiten und zu verstehen. „Schule kann hier immer nur Grundlagen legen“, sagt Stanat.

Unterricht hat auch seine Grenzen

Unterdessen drängt aber auch die Verbraucherbildung zunehmend in die Lehrpläne der Schulen. Nachdem die Kultusministerkonferenz (KMK) 2013 beschlossen hatte, Deutschlands Schüler auch zu kompetenten Konsumenten zu erziehen, ist das in mehr als einem halben Dutzend Bundesländern bereits der Fall, darunter in Berlin. Dabei soll es um genau die Themen gehen, die „Naina“ in der Schule vermisst: Wie eröffnet man sein erstes Bankkonto, was muss man beim Abschluss eines Mietvertrages beachten? Oder wie ernähre ich mich regional und gesund?

In Bayern etwa wird in einigen Klassenstufen das Fach Wirtschaft/Recht angeboten. In diesem Rahmen gehe es auch um Vertragsrecht oder Grundsätze des Steuer- und Versicherungsrechts, sagt Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Philologenverbandes und selber Direktor eines Gymnasiums in Bayern. Er hält es für legitim, dass in der Schule „grundsätzliche Dinge unterrichtet werden, die zur selbstständigen Lebensführung dazugehören“. Allerdings habe der Unterricht seine Grenzen: „Man kann davon ausgehen, dass eine Reihe von 16-Jährigen bei solchen Themen nicht wirklich hinhört, weil es sie eben doch noch nicht persönlich betrifft.“ Die Schule werde also kaum ersetzen können, „dass sich Schüler im Bedarfsfall selber reinknien müssen.“

Unternehmen drängen Schule ihre Angebote auf

Bis Initiativen der für die Schulen zuständigen Minister auch wirklich im Klassenzimmer ankommen, ist es ohnehin ein weiter Weg. Als sich vor wenigen Monaten Vertreter aus Politik und Verbraucherschutz in Berlin trafen, um über konkrete Unterrichtsmodelle zu beraten, beklagte eine Expertin, dass vielen Lehrkräften die nötigen Kompetenzen fehlten – auch weil entsprechende Inhalte in den Studiengängen abgebaut worden seien.

Berliner Lehrer klagen bereits, dass sie mehr und mehr Erziehungsaufgaben übernehmen müssten, die eigentlich vom Elternhaus zu leisten seien. Zu den Themen, die die Schule nach dem neuen Rahmenlehrplan vermitteln soll, gehören Gesundheitsförderung, kulturelle Bildung – und Verbraucherbildung.

Eine Gefahr sei hier, dass viele Unternehmen Schulen ihre eigenen Angebote aufdrängen wollen, warnt Meidinger: „Wir müssen hier eine klare Grenze zur Produktwerbung ziehen.“ Sollte „Naina“ tatsächlich Gedichte in vier Sprachen analysieren können, wie sie twitterte, hält Meidinger sie ohnehin für glänzend auf das Leben vorbereitet: „Ich wäre schon froh, wenn das alle Schüler auf Deutsch könnten.“

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