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„Größere Muckis“ und ein größeres Gehirn. Kaum ein Junge würde sich manchmal wünschen, ein Mädchen zu sein – umgekehrt schon, zeigen Aufsätze von Zehnjährigen. Rollenstereotype können bei Mädchen zu einem negativeren Selbstbild führen.

© mauritius images

Geschlechterstereotypen: "...weil ich im Stehen pinkeln kann"

Schulaufsätze: Warum ich gern ein Junge bin, warum ich gern ein Mädchen bin – wie Geschlechterstereotypen Kinder prägen.

Was macht Männer aus? Fragt man das Erwachsene, so werden überwiegend Eigenschaften rund um Dominanz, Prestige und Kompetenz genannt. Zum stereotypen Bild von Frauen gehören dagegen Attraktivität und Fürsorglichkeit. Denken Kinder auch noch gemäß dieser Rollenstereotype? Immerhin werden sie heute von ihren Eltern und in der Schule „modern“ und „aufgeklärt“ erzogen. Wir haben Lehrkräfte der Grundschule gebeten, Kinder im Alter von etwa zehn Jahren einen Text schreiben zu lassen zum Thema „Warum ich gern ein Mädchen/Junge bin“. Als Datenbasis liegen an die 100 Aufsätze aus dem Jahr 2010 sowie 181 Aufsätze aus dem Jahr 1980 vor. Das erlaubt, Veränderungen in den 30 dazwischen liegenden Jahren zu beschreiben.

Die Annahme, die Kinder seien heute weit weniger von alten Stereotypen beeinflusst, erwies sich als falsch. Im Gegenteil sind ihre Aussagen stark von Rollenklischees geprägt. So schreibt David, er sei gerne ein Junge, „weil Jungen sterker sind. weil ich beser mit Holtz bauen kann. ich kann beser schwimmen. dann kann ich beser mit Jungen spielen. und weil ich beser auf Bäume kletern kann. weil ich schneler rennen kann, weil ich weiter springen kann“. Immer wieder betonen die Jungen körperliche Eigenschaften: Jungen hätten mehr Muskeln („größere Muckis“) und ein größeres Gehirn. Zu ihren Vorzügen gehöre, dass „in den Busch pullern einfacher geht“, „weil ich im Stehen pinkeln kann“.

Jungen empfinden sich bereits als das überlegene Geschlecht, das sich körperlich durch Stärke und Schnelligkeit, im technischen Bereich durch größere Geschicklichkeit und im sozialen Bereich durch Dominanz (Mut, Wildheit) auszeichnet. Jungen sind offenbar recht zufrieden mit ihrem Geschlecht. Ganz selten finden sich kritische Äußerungen wie diese: „Die schlechte Seite der Jungen ist meistens die Quatschmacherseite, die schlechte Seite der Mädchen ist die Zickenseite. Ich habe lieber die Quatschmacherseite.“

Stereotyp sind auch die Antworten der Mädchen: „Als Mädchen bekommt man Kinder. Mädchen können sich um Kinder kümmern. Mädchen sind meistens ordentlicher als Jungs. Als Mädchen kann man schöne Sachen anziehen. Als Mädchen kann man sich schminken. Als Mädchen kann man die Haar schön frisieren. Mädchen sind nicht so brutal wie Jungs. Manchmal möchte ich ein Junge sein. Jungs sind manchmal sportlicher als Mädchen. Jungs haben später keine Regeln.“

Während sich in den Selbstbeschreibungen der Jungen von 1980 und 2010 kaum Unterschiede finden, ist das bei den Mädchen anders. Im Jahr 1980 waren ihre Äußerungen meist auf vier Bereiche gleichermaßen bezogen: praktische Fähigkeiten im Haushalt (25 Prozent), Attraktivität/Kleidung (22 Prozent), körperlich/sportliche Fähigkeiten und Spiele wie Gummitwist, Geräteturnen, mit Puppen spielen (20 Prozent) und soziales Verhalten/Fürsorglichkeit/Bravheit (20 Prozent).

Im Jahr 2010 überwiegen hingegen deutlich die Äußerungen, die sich auf Schönheit und modische Attribute beziehen. Mit deprimierender Regelmäßigkeit liest man: „Ich bin gern ein Mädchen, weil ich lange Haare habe“, „weil ich mich schminken kann“, „weil ich schöne Sachen anziehen kann“. Praktische, auf Hausarbeit bezogene Tätigkeiten werden 2010 nicht mehr genannt. Dafür gibt es nun einen neuen Aspekt: „weil Mädchen besser als Jungen schoppen gehen“ können. Seltener geworden sind auch Äußerungen, die auf das angepasstere Verhalten von Mädchen zielen: „weil die Mädchen vernünftiger sind“, „Mädchen haben ein besseres Benehmen“, „Wir brechen uns nicht so viel wie Jungs, zum Beispiel beim Boxen oder Fußball“. Mädchen halten es also nicht mehr für so wichtig für ihre Rolle, angepasst zu sein und Fähigkeiten im Haushalt zu beherrschen. Attraktiv zu sein hat für sie hingegen deutlich gewonnen.

Entwicklungen zeigen sich auch darin, wie die Jungen die Mädchen wahrnehmen. Von Jungen finden sich nunmehr nur ganz selten positive Äußerungen über Mädchen. Im Jahr 2010 möchte nur ein Junge manchmal ein Mädchen sein: „weil manche riechdich gut sind in der Schule“. Gegenüber 1980 sind die Begründungen zahlreicher geworden, warum man kein Mädchen sein möchte: „weil Mädchen immer viel reden und rumzicken und angeben“, „weil mir die Fraunstime nicht gefällt und die klamoten gefalen mir nicht“, „weil Mädchen eher Tanzen oder Ballett machen wollen und Jungs eher Sportliche sachen machen“, „weil Medchen zu blöt zum Autovaren siend“, „weil Mädchen mehr Angst vor Ungeziefer wie Spinnen haben als Jungen“. – „Manche Sachen, die Mädchen machen, wären mir echt peinlich.“ „Sie sind Heulsusen.“

Die Jungen empfinden, dass sie zum bevorzugten Geschlecht gehören. Sie unterliegen weniger Zwängen: „immer schön aussehen müssen“, „sich immer waschen müssen“, „sich schminken und Röcke oder Kleider tragen müssen“. Und sie haben größere Freiheiten: „weil Jungen wilder spielen und toben dürfen“, „Jungen dürfen mehr Faulheit zeigen“, „für Jungen gibt es coole Spiele, die es für Mädchen nicht gibt“.

Die Mädchen allerdings haben heute wie vor 30 Jahren mehr Positives als Negatives über Jungen zu sagen. Etwa 20 Prozent der Mädchen schreiben, dass sie manchmal auch gern ein Junge wären, und verweisen dabei auf die größere Bewegungs- und Handlungsfreiheit von Jungen: Jungen dürfen Fußball spielen, auf Bäume klettern, sie dürfen mehr Blödsinn machen. Mädchen beneiden Jungen: „Sie haben mehr Power als Mädchen.“ – „Jungen haben mehr Abenteuer in ihrem Leben.“ Wenn kritische Äußerungen zu Jungen kommen, dann betreffen diese zumeist das Sozialverhalten: „weil Jungs sehr brutal sind“, „als Junge würde man sich nur raufen und prügeln und ein ziemlicher Matcho oder Angeber sein“.

Fazit: Die Erwartung, dass sich nach 30 Jahren die Einstellungen bei Kindern in Richtung Gleichheit geändert hätten, hat sich nicht erfüllt – selbst wenn die schmale Datenbasis von nicht ganz 300 Aufsätzen nur vorsichtige Schlussfolgerungen erlaubt. Bedenklich ist vor allem, dass bei Mädchen die Attraktivität einen erheblich größeren Raum einnimmt. Ironischerweise wird dies von den Jungen dieser Altersstufe nicht einmal honoriert. So meint ein Junge, er wolle kein Mädchen sein, „weil ich nicht so einen Schuhtick haben will und nicht so viel Schminke und Puder haben will und keine Röcke, die so kurz sind, das man sie gar nicht braucht“. Der Eindruck entsteht, dass die Gräben von Jungenseite aus tiefer geworden sind, da sie sich im Jahr 2010 stärker von Mädchen abgrenzen als 30 Jahre zuvor

Wie kommt es, dass die Kinder den Rollenstereotypen dermaßen deutlich folgen? In allen Kulturen gilt das Geschlecht als wichtige Kategorie für die soziale Differenzierung. Mit ihr verbindet sich eine Vielzahl geschlechtsbezogener Erwartungen und Vorschriften. Kinder lernen schon sehr früh, welche Merkmale in ihrer Kultur als „männlich“ und welche als „weiblich“ angesehen werden – und welches Verhalten vor diesem Hintergrund als abweichend gilt.

Der US-amerikanische Entwicklungspsychologe Lawrence Kohlberg hat schon vor 35 Jahren darauf hingewiesen, dass Kinder einen aktiven Beitrag bei der Interpretation ihrer Geschlechterrolle leisten. Sobald sie die Unveränderbarkeit ihrer Geschlechtszugehörigkeit erkannt haben, streben sie danach, sich ihrem Geschlecht entsprechend zu verhalten.

Während Kinder im jüngeren und mittleren Alter aufgrund ihres Entwicklungsstands recht starr Geschlechterstereotypen folgen, können Jugendliche sich kritisch mit der Norm auseinandersetzen. Allerdings – so zeigt unsere von der DFG geförderte Längsschnittstudie „Aida“ an über 3000 Berliner Jugendlichen – wirken die Stereotype des Selbstbildes nach: Weibliche Jugendliche sind unzufriedener mit ihrem Äußeren, weil sie offenbar von dem zunehmenden Schönheitswahn der Erwachsenenwelt beeinflusst werden. Sie entwickeln weniger Ich-Stärke als männliche Jugendliche, das heißt, sie verfügen über ein weniger positives Selbstbild und eine geringere psychische Stabilität, auch ihr Vertrauen in ihre Leistungsfähigkeit und ihre Erfolgszuversicht sind im Schnitt geringer ausgeprägt. Und: Obwohl sie in stärkerem Maße für die Gleichberechtigung von Frau und Mann in Familie und Beruf eintreten als die männlichen Jugendlichen, wählen sie in der großen Mehrheit geschlechterstereotype Berufe mit geringen Aufstiegschancen.

Wie stark Rollenstereotype Mädchen beim Lernen behindern, ist unlängst in der OECD-Studie „Equally prepared for life?“ beschrieben worden. Trotzdem ist es in konservativen Kreisen heute üblich, die Jungen als Opfer des Schulsystems zu betrachten und zu beklagen. Wenn man aber nicht nur auf die Schulabbrecher und die Haupt- und Sonderschüler schaut (unter ihnen übrigens auch ein sehr hoher Anteil an Migrantinnen), sondern auf die Persönlichkeitsentwicklung allgemein, ist festzustellen, dass weibliche und männliche Jugendliche am Ende der Schulzeit nicht gleichermaßen gut auf das Leben vorbereitet sind.

Die Autorin ist Professorin für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität und war unter anderem an mehreren Pisa- und Iglu-Studien beteiligt.

Renate Valtin

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