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Nachdenkliche Figuren stolpern über die neue Rechtschreibung.

© Imago

20 Jahre Rechtschreibreform: "Neue" Rechtschreibung ist für manche noch immer ein Gräuel

Für manche Deutsche hat die Rechtschreibreform ihren Schrecken auch nach 20 Jahren nicht verloren. Die allermeisten Neuerungen haben sich aber durchgesetzt.

Herr Eichinger, der Beginn der Rechtschreibreform liegt 20 Jahre zurück und noch immer haben viele nicht ihren Frieden mit den „neuen“ Schreibweisen gemacht. Überrascht Sie das?

Rechtschreibung ist ja etwas, das wir uns in bestimmter Weise angeeignet haben und mit dem wir uns lebenslang beschäftigen. Da tut man sich mit Veränderungen schwer. Die Reform von 1996 wurde auch nicht sehr glücklich durchgeführt. Es gab anfangs zu wenige Kompromisse mit dem bisherigen Schreibgebrauch. Manche Menschen haben den Schrecken von damals bis heute nicht verloren.

Der Rat für deutsche Rechtschreibung, dem Sie angehören, beobachtet seit der verbindlichen Einführung der Reform in den Schulen im Sommer 2006 den Schreibgebrauch. Was hat sich durchgesetzt und was nicht?

Eigentlich haben sich die meisten Dinge durchgesetzt. Auch wenn es öffentlich zum Teil anders dargestellt wird: Die Veränderung der s-Schreibung (dass statt daß) machen alle mit – bis auf statistisch unbedeutende Ausreißer. Dass viele gleichwohl Probleme haben, das als Artikel oder Pronomen mit einem s und dass als Konjunktion mit Doppel-s zu schreiben, hat nichts mit der Reform zu tun. Hier besteht ein traditionelles grammatisches Problem weiter.

Zu Verwirrung führen auch die seit 2006 geltenden Änderungen der Reform, wonach es etwa nicht mehr Leid tun heißt, sondern leidtun – im Gegensatz zum früheren leid tun. Was denn nun, fragen die Leute.

In den vom Rechtschreibrat untersuchten Textsammlungen haben sich diese Neuerungen sehr weitgehend durchgesetzt. Aber es gibt ähnliche Konstellationen, in denen der Gebrauch stark schwankt. Schreiber, die anheimstellen oder überhandnehmen getrennt schreiben wollen, erkennen dabei noch das Heim und die Hand . Die Meinung im Rat ist, dass man solche Fälle eher liberal handhaben und in der Schule nicht mehr unbedingt als Fehler anstreichen sollte. Was gar nicht funktioniert hat, ist oft die Integration, also die Eindeutschung, von Fremdwörtern: Praktisch niemand schreibt Vademekum oder Büfett. Hier wollen wir die „alte“ und die „fremde“ Schreibweise, also Vademecum und Buffet wieder zulassen.

Ludwig M. Eichinger (66) ist Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung, der die Entwicklung seit 2006 beobachtet.
Ludwig M. Eichinger (66) ist Direktor des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim und Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung, der die Entwicklung seit 2006 beobachtet.

© Promo/Backofen Mannheim

Wie sieht es bei der vereinfachten Komma-Setzung aus? Herrscht dabei tatsächlich eine allgemeine Verunsicherung, von der häufig die Rede ist?

Dafür gibt es keine perfekte Lösung. Immer schon überlagern sich bei der deutschen Kommasetzung das grammatische Prinzip – teile Nebensätze ab – und das inhaltliche Prinzip, mit dem wir Zusammenhänge darstellen. Daran hat sich durch die Reform nichts geändert. Aber einige Fälle sind der schreiberischen Gestaltung freigestellt, etwa das Komma zwischen Hauptsätzen mit und. Der Rat will sich jetzt ansehen, ob man die Regeln systematischer darstellen kann.

Beobachten Sie Unterschiede zwischen den Textarten, die Sie untersuchen, also etwa zwischen gedruckten Schulbüchern, Belletristik und Online-Texten?

In Schulbüchern ist die Reformschreibung bundeseinheitlich durchgesetzt. Die Verlage haben sie ja selber mit beschlossen und wirken im Rat mit. Die Belletristik aber ist frei, gesetzmäßig gilt die neue Rechtschreibung nur für die Schule und für die Amtsschreibung. Literarische Texte leben davon, dass sie orthografisch eigenwillig sind. Autorinnen oder Autoren, die darauf bestehen, in alter Rechtschreibung zu erscheinen, können das bei ihren Verlagen durchsetzen.

Sprache unterliegt einem permanenten Wandel, aber der ist im Regelfall kontinuierlicher Natur und wird nicht von oben her durchgesetzt. Schon gar nicht deutlich spürbar und abrupt.

schreibt NutzerIn ralf.schrader

Wie sieht es bei informellen Texten in digitalen Medien aus? SMS oder WhatsApp-Nachrichten werden ja oft ohne Punkt und Komma, ohne Großschreibung und in sehr unkonventioneller Rechtschreibung formuliert.

In den neuen Medien kommt es mehr auf Schnelligkeit als auf Richtigkeit an. Da findet man auch absichtliche Dinge wie drei Konsonanten, Vokale und/oder Satzzeichen hintereinander, um etwas zu verstärken: grrr!!! ooooh! Da sehe ich keine Aufgabe für die Rechtschreibregelung. Wenn Leute allerdings nur noch so schreiben und all ihre Texte am Computer verfassen, wo das Rechtschreibprogramm korrigiert, fehlen die Möglichkeiten und auch der Druck, die Orthografie einzuüben.

Wie sehen Sie die Sonderregeln, denen Zeitungen folgen? 2007 hat unter anderem die „FAZ“ erklärt, der Einheitlichkeit zuliebe die reformierte Rechtschreibung endgültig zu übernehmen, aber „Unsinnigkeiten“ wie platzieren und Stängel nicht mitzumachen, sondern weiterhin plazieren und Stengel zu schreiben.

Hausorthografie-Regelungen sind intern sinnvoll, wenn es dem konservativen Selbstverständnis widerspricht, jede Änderung mitzumachen. Das ist symbolisches Handeln, wobei die Zeitungen dabei keineswegs konsequent sind.

Werden Kinder und Jugendliche durch soziale Medien verdorben?

Werden Kinder und Jugendliche durch die laxe Kommunikation in den sozialen Medien verdorben?

Wir sollten die Kommunikationsweise im Netz nicht verteufeln, die Medienlandschaft ist, wie sie ist. Man muss in diesen Textformen adäquat reagieren, beispielsweise kann man nicht verlangen, SMS nur in vollständigen Sätzen zu schreiben. Aber die Chance, heute zu wissen, wie normale Rechtschreibung geht, ist nun einmal geringer geworden.

In der aktuellen Diskussion wird kritisiert, Schüler täten sich mit der richtigen Orthografie schwerer als vor der Reform. Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen?

Dazu gibt es bislang keine statistisch belastbaren Ergebnisse, wie weit man das auf die Reform zurückführen kann. Studien, die dazu jetzt zitiert werden, stammen meist aus der Zeit vor 2010, als in den Schulen teilweise noch Verwirrung über das Regelwerk herrschte. Hinter den Rechtschreibproblemen heutiger Schüler stehen zudem verschiedene andere Faktoren: Wenn 60 Prozent eines Altersjahrgangs auf das Gymnasium gehen, ist es eine Herausforderung, alle auf ein hohes Niveau zu bringen. Und es gibt die Konkurrenz der anderen Medien, Lesen ist nicht mehr die Hauptbeschäftigung in der Freizeit.

Wie wirkt sich das konkret aus?

Kinder und Jugendliche lernen beim regelmäßigen Lesen von Büchern – auch von E-Books! – das richtige Schreiben. Je öfter einem Wortbilder begegnen, desto sicherer wird man. Weil weniger gelesen wird, muss die Schule das kompensieren. Sie ist der Hauptort des Spracherwerbs.

Für Rechtschreibschwächen von Schülern werden auch die Anlauttabellen verantwortlich gemacht, mit denen sie Lesen und Schreiben lernen. Wie bewerten Sie das phonetische Schreiben?

Es mag anfangs für unsichere Kinder gut sein, damit sie überhaupt zu schreiben beginnen. Aber Orthografie ist keine Lautschrift, dieses Prinzip führt zu weit vom Wege ab. Schon in der zweiten Hälfte der ersten Klasse sollte man auf die richtige Schreibweise hinführen, damit sie in der vierten Klasse möglichst weitgehend beherrscht wird. Aber auch in der Mittelstufe muss der Orthografieunterricht fortgesetzt werden, denn die wirklich schwierigen Formen kommen erst in den oberen Klassen vor.

Fordern Sie auch die Rückkehr zu Diktaten in der Grundschule?

Zumindest als Übungsform sollte man sie nicht ausschließen. Im Diktat wird die Schreibfähigkeit trainiert, die Schüler können sich unabhängig vom Inhalt darauf konzentrieren. Benoten muss man sie aber nicht.

Wie geht es weiter mit der Rechtschreibreform: Was wird als Nächstes geändert?

Ganz große Änderungen sind nicht mehr zu erwarten. Ambivalenzfälle sind die große Aufgabe für die Zukunft des Rechtschreibrats. Wir beobachten die Schwankungen im Sprachgebrauch und geben Empfehlungen zu Varianten: Wenn du konservativ bist, schreib es so, wenn du progressiver erscheinen willst, so. Unter anderem werden wir der Kultusministerkonferenz im Oktober empfehlen, bestimmte Großschreibungen bei festen Begriffen wie der Große Lauschangriff in vernünftiger Weise im Regelwerk zuzulassen. Da ist die Regel bislang zumindest unklar, jetzt soll solch eine Schreibung auch als ein Normalfall gelten.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

Lesen Sie hier, wie aktuell über die Rechtschreibkenntnisse von Schülerinnen und Schülern diskutiert wird.

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