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Die Fassade einer Villa im Gegenlicht fotografiert, davor schneebedeckte Gartenanlagen.

© Thilo Rückeis

75. Jahrestag der Wannsee-Konferenz: Als der Judenmord offizielle Politik wurde

Die tatsächliche Bedeutung der Wannsee-Konferenz für den Holocaust ist noch immer nicht abschließend aufgeklärt. Eine Historiker-Umfrage zum 75. Jahrestag.

Unterschiedliche Varianten des Mordprojektes

Aus mehreren Gründen ist die Wannsee-Konferenz für die Erforschung der Geschichte des Massenmords an den europäischen Juden und des Nationalsozialismus von zentraler Bedeutung. Erstens stellte das Treffen nicht die Entscheidung zur Ingangsetzung der „Endlösung“ dar, wohl aber eine zentrale Organisations- und Abstimmungskonferenz. Zwar lief der Massenmord bereits seit Sommer 1941 durch die Massenerschießungen in Polen und der Sowjetunion, seit Dezember 1941 wurden in Chelmno/Kulmhof Juden aus dem Warthegau durch Autoabgase getötet. Doch nun stimmten sich Vertreter aller beteiligten Stellen ab, diskutierten Varianten möglicher Mordpläne, legten genaue Zahlen je Herkunftsland fest.

Zweitens zeigte sich, dass keineswegs nur die SS-Vertreter, sondern gerade auch die Staatssekretäre und Repräsentanten der Besatzungsverwaltungen zum radikalstmöglichen Vorgehen gegen die Juden bereit waren. Das und gerade auch der Antrieb zum Handeln aus den Regionen verbietet jede Verlagerung der Verantwortung auf Hitler, Himmler und Heydrich.

Drittens ist das von Adolf Eichmann erstellte Ergebnisprotokoll des Treffens eine imminent wichtige historische Quelle. Verfasst in der üblichen Tarnsprache bot es konkrete Zahlen (elf Millionen) und konkrete Schritte zur „Endlösung der europäischen Judenfrage“.

Viertens offenbart es die für das NS-Regime charakteristischen Interessendivergenzen bei grundsätzlichem Einverständnis über die Zielrichtung: Es ging weniger um Machtgerangel zwischen Heydrich und Himmler denn um unterschiedliche Varianten des Mordprojektes (industrielle Vernichtung oder Mord durch „Umsiedlung“ und Zwangsarbeit, Behandlung der „jüdischen Mischlinge“).

Somit stellt sich fünftens weniger die Frage nach dem „Warum“ der Konferenz (Eberhard Jäckel), sondern es bleibt zu klären, ob das Treffen auf einen „Gesamtplan“ abzielte (Peter Longerich) oder vielmehr das allgemeine Einverständnis an einer großen, nie da gewesenen Aufgabe mitzuwirken, in Handlungen kanalisieren sollte. Sechstens war bislang über die Mehrheit der Teilnehmer – von Heydrich und Eichmann einmal abgesehen – in Forschung und öffentlicher Wahrnehmung nur wenig bekannt. Das korrigiert ein soeben im Metropol-Verlag erschienener, von Hans-Christian Jasch und Christoph Kreutzmüller herausgegebener Sammelband, stehen die Teilnehmer doch für die Beteiligung aller zentralen Ministerien, der Besatzungsverwaltungen, der SS und Polizei – kurz für die Verantwortung der Spitzen der deutschen Gesellschaft.

Isabel Heinemann ist Juniorprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Von ihr ist unter anderem ein Beitrag in dem oben erwähnten Sammelband erschienen.

Der Holocaust trat in ein neues, entscheidendes Stadium

Das Protokoll der „Wannsee-Konferenz“ ist und bleibt eines der zentralen Dokumente zum Völkermord an den Juden Europas. Unterschiedliche Interpretationen gibt es weiter in der Frage, ob die Entscheidung, „in möglichst kurzer Zeit, in jedem Fall vor Ende des Krieges, alle in deutscher Reichweite befindlichen Juden Europas unterschiedslos zu ermorden“ (Peter Longerich), bereits im Dezember 1941 (Christian Gerlach) gefallen war oder die Wannsee-Konferenz doch erst ein zentrales Ereignis hin zu dieser Entscheidung im Mai/Juni 1942 war (Peter Longerich). Doch wir können heute genau die mörderischen Einzelentscheidungen der nationalsozialistischen Führung in diesem Zeitraum analysieren und festhalten, dass über das Ziel der mörderischen Politik bereits Ende 1941 kein Zweifel mehr bestand. Unklar war jedoch noch der genaue Einsatz der Mordtechniken und noch nicht geklärt war die zeitliche Abfolge der Mordaktionen.

Heydrichs für die Konferenz vorbereiteter Plan einer großen Deportationslösung, um elf Millionen europäischer Juden an den äußersten Rand des deutschen Herrschaftssystems zu schaffen, um sie dort durch Zwangsarbeit, Hunger oder durch direkte Mordaktionen ums Leben zu bringen, war durch die Ereignisse im Dezember 1941 in Teilen überholt. Hitler hatte entschieden, die deutschen und österreichischen Juden aus dem Reichsgebiet zu deportieren. Unter Himmlers direkter Kontrolle entstanden gerade die Vernichtungszentren der Aktion Reinhard in Belzec und Sobibor, später auch in Treblinka. In Chelmno hatten im Dezember 1941 die ersten Vergasungen stattgefunden. So wurde auf der Konferenz konkretisiert, in welchen Regionen die weiteren Mordaktionen konkret stattfinden könnten.

Jetzt sollte nicht mehr die besetzte Sowjetunion, sondern das besetzte Polen zum weiteren Ort des Massenmords werden, jetzt waren nicht mehr Massenexekutionen, sondern verschiedene Technologien des Gasmordes die bevorzugte Mordmethode. Damit war das Geschehen, das wir heute mit dem Wort „Holocaust“ beschreiben, in ein neues, entscheidendes Stadium getreten.

Johannes Tuchel ist Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Publiziert hat er unter anderem auch über die „Inspektion der Konzentrationslager“.

Ein machtvolles Symbol der Selbstverständlichkeit des Judenmords

Die „Besprechung mit anschließendem Frühstück“, zu der sich am 20. Januar 1942 15 Vertreter der obersten Reichs- und Parteibehörden in der ehemaligen Villa Marlier im exklusiven Berliner Südwesten versammelten, ist heute unter dem Namen „Wannsee-Konferenz“ zweifelsohne ein zentraler Erinnerungsort der deutschen Geschichte. Zwar weiß man seit Jahrzehnten, dass der Massenmord an den europäischen Juden dort nicht beschlossen, sondern in seinen angestrebten Dimensionen vorgestellt, entsprechende Zuständigkeiten geklärt und einige Detailfragen besprochen wurden.

Gleichwohl fungierte die Einbeziehung der oberen Ministerialbürokratie als wichtige Legitimation, aber auch als Signal, durch das der Genozid zur offiziellen staatlichen Politik wurde. Insofern ist das Bild der Cognac trinkenden Staatssekretäre ein machtvolles Symbol der Selbstverständlichkeit, mit der der Mord an Millionen Juden von der deutschen politischen Elite diskutiert, akzeptiert und administrativ umgesetzt wurde.

Was dies für die Mitarbeiter einzelner Behörden und Ämter konkret bedeutete, von welchen Taten man dort Kenntnis hatte und in welchem Rahmen man aktiv und vielleicht begeistert beteiligt war, soll nun, mithilfe eines neuen Förderprogramms des Bundes, in den nächsten Jahren ausgeleuchtet werden. Mit Sicherheit werden wir so, zum 80. Jahrestag, über noch mehr Detailwissen verfügen und vermutlich auch die eine oder andere neue Deutungs- oder Datierungskontroverse ausgefochten haben.

Letztlich entbindet uns dies aber nicht von der Erkenntnis, dass die Erforschung dieser „schwierigen Vergangenheiten“ immer erst dann gefördert, ihre Ergebnisse popularisiert und schließlich öffentlich „erinnert“ werden, wenn sie aufgrund des langen zeitlichen Abstands gewissermaßen entschärft sind, also ihre politische wie individuell-biografische Brisanz längst verloren haben.

Stefanie Schüler-Springorum ist Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Zu den von ihr geleiteten Forschungsprojekten gehört „Ein deutscher Judenrat? Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und die Deportationen der Juden aus dem ‚Altreich‘“.

Das dunkelste Kapitel - der zweite Teil der Umfrage

War am 20. Januar erlaubt, was Ende November noch verboten war?

In einer Geschichte von Sitzungen deutscher politischer Entscheidungsträger wäre die Wannsee-Konferenz wohl das dunkelste Kapitel. Sie markiert den moralischen Bankrott einer diktatorisch geführten arbeitsteiligen Industriegesellschaft, weil das Treffen von Staatssekretären, Besatzungspolitikern, SS und Parteimitgliedern den langfristig angelegten Massenmord an Millionen von Menschen thematisierte – das Vorhaben blieb unwidersprochen.

Doch warum fand das Treffen statt? War es nur, um alle Anwesenden mit einer Strategie bekannt zu machen und die Leitung festzuschreiben? Und wenn dies das hervorragende Ziel gewesen sein sollte: Hat es nun vorher einen Beschluss Hitlers gegeben, die Juden Europas zu ermorden, oder erst danach? Über diese Fragen wird nach wie vor diskutiert, weil die Sitzung in beide Richtungen interpretiert werden kann.

Blickt man allerdings genauer auf den jüngsten und rangniedrigsten Teilnehmer, dann zeigen sich neue Details: Der SS-Sturmbannführer Dr. Rudolf Lange in Riga hatte am 19. Januar die eben aus Theresienstadt angekommenen tschechischen Juden fast sämtlich ermorden lassen und saß nun am Wannsee.

In den letzten Novembertagen des Jahres 1941 hatte es bereits ähnliche Massaker an Deportierten gegeben, in Riga und im litauischen Kaunas. Der verantwortliche SS-Führer war hierfür heftig gerügt worden, weil dies gegen die Richtlinien Himmlers und Heydrichs verstoßen hatte. War am 20. Januar 1942 erlaubt, was Ende November 1941 noch verboten gewesen war?

Peter Klein ist Professor am Touro College Berlin und leitet dort den Masterstudiengang Holocaust Communication. Klein war wissenschaftlicher Berater bei der Neukonzeption der Dauerausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz von 2006. Soeben erschien im Metropol-Verlag ein neues Buch zum Thema: Die „Wannsee-Konferenz“ am 20. Januar 1942.

Erinnerung an Joseph Wulf, den zurückgewiesenen Vorkämpfer für die Gedenkstätte

Es ist bemerkenswert, wie selbstverständlich die Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz heute funktioniert. Denn in den Jahrzehnten nach Kriegsende und vor ihrer Eröffnung 1992 wollte niemand etwas von einer solchen Einrichtung wissen. Das Landschulheim für Neuköllner Kinder, das dort existierte, wurde erbittert verteidigt – gegen Joseph Wulf, einen polnisch-jüdischen Historiker. Er setzte sich seit Mitte der 60er Jahre für die Einrichtung eines „Internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen“ in der Wannsee-Villa ein.

Wulf lebte seit 1952 in Berlin, nachdem er Auschwitz überlebt und sich in Polen und Frankreich um die Aufarbeitung des Holocaust verdient gemacht hatte. Aus Verzweiflung über die Verdrängung des Judenmordes in Deutschland nahm er sich 1974 durch einen Fenstersturz aus seiner Wohnung in der Giesebrechtstraße das Leben.

Heute gilt Wulf unter Nachgeborenen als Märtyrer, seine Dokumentationen etwa über Musik, Kunst und Literatur im Dritten Reich als wertvolle Pionierarbeiten. Doch damals bezichtigte ihn die Historikerzunft des Dilettantismus. Mit überlebenden Opfern wollte das Publikum nichts zu tun haben.

Von Wulf ist die Aussage überliefert, man könne sich „bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen“.

Wulfs Plan für die Wannsee-Villa in Berlin hat in Berlin indes eine Debatte über die angemessene Aufarbeitung ausgelöst. Nicht „noch eine Gedenkstätte“ wollte man haben, sondern eine lebendige Forschungsstätte.

So entstand 1982 das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU. Die pädagogische Aufgabe, die man dem Zentrum ursprünglich zugedacht hatte, sollte dann zehn Jahre später das Haus der Wannsee-Konferenz vorbildlich erfüllen – mit seinen maßgeschneiderten Programmen für Schüler und andere Gruppen. Da hatte sich endlich der Kreis im Sinne Joseph Wulfs geschlossen.

Wolfgang Benz ist Historiker und ehemaliger Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Er ist unter anderem Herausgeber und Autor des achtbändigen „Handbuchs des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart“.

Einen aktuellen Artikel von Andreas Conrad über den historischen Ort der Wannsee-Konferenz und die heutige Gedenkstätte lesen Sie hier.

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