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Auf einem Kalenderdeckblatt von 1930 ist ein sitzender Mann zu sehen, der eine Axt in der Hand hält und auf ein Tal mit einem Bauernhaus blickt.

© Iberoamerikanisches Institut Berlin

Auswanderung als nationalistisches Projekt: Aus Deutschen in Brasilien wurden Deutschbrasilianer

Deutsche Einwanderer erschlossen im 19. Jahrhundert den Süden Brasiliens. Deutschtumsbewahrer reisten ihnen nach, agierten aber nicht immer mit Erfolg.

Integrationsprobleme von Migranten, ihre Probleme in der Schule, Kritik an Ghettoisierung und ausländischem Einfluss auf die Einwanderer: Was nach der aktuellen Debatte über Einwanderung in Deutschland klingt, wurde bereits um 1900 in Brasilien zur deutschen Einwanderung diskutiert. Die europäische Massenauswanderung im 19. und frühen 20. Jahrhundert ging vor allem in die USA, aber auch in südamerikanische Länder wie Brasilien. Dort ließen sich zwischen 1824 und 1945 etwa 220 000 Deutsche nieder. Da viele von ihnen große Familien gründeten, stellten sie alsbald etwa ein Drittel der Bevölkerung Südbrasiliens.

Brasilien war anfangs sehr an europäischer Einwanderung interessiert, galt es doch, wenig besiedelte Gebiete zu erschließen und die Gesellschaft „aufzuweißen“. So dachten jedenfalls die brasilianischen Eliten, die sich europäische Rassentheorien zu eigen machten und die afrobrasilianische Prägung des Landes verringern wollten. Doch mehrten sich schon ab 1900 brasilianische Stimmen, die den Deutschen mangelnde Integrationsbereitschaft vorwarfen und schließlich gar von einer „deutschen Gefahr“ und von deutschen „Zysten“ sprachen. Wie kam es zu diesem Meinungsumschwung?

Deutschtums-Akteure lehnten Assimilation ans Gastland ab

Als im 19. Jahrhundert deutsche Einwanderer mit der kleinbäuerlichen Besiedlung der südlichen Provinzen Brasiliens begannen, bemühten sich zunächst Auswanderungs- und Kolonialvereine, ab 1871 dann Kirchenbehörden und staatliche Stellen darum, deren sogenanntes Deutschtum zu erhalten. Wenn die Auswanderer weiterhin die deutsche Sprache, Kultur und Traditionen bewahrten, so die Idee, könne Deutschland seinen Einfluss in der Welt ausbauen und Absatzmärkte erschließen. Eine Assimilation an die Gastländer lehnten die deutschen Akteure daher strikt ab. Denn sie verbanden Auswanderung mit imperialistischen Ideen. Das Roden und Kultivieren des brasilianischen Urwalds sei eine „deutsche Zivilisierungsmission“.

Die Deutschtumspolitik in Brasilien erfolgte mit der Entsendung oft nationalistisch eingestellter deutscher Lehrer und evangelischer Pfarrer, der Finanzierung deutschsprachiger Schulen und der Förderung des lokalen Vereinswesens der Einwanderer durch den deutschen Staat, Propaganda in der deutschsprachigen Presse Brasiliens und Besuchen von Kriegsschiffen. Die Idee eines weltweiten „Auslandsdeutschtums“, das weiterhin mit der deutschen Nation in Verbindung stehen sollte, erfuhr in der Weimarer Republik aufgrund des verlorenen Ersten Weltkriegs und der deutschen Minderheiten in Europa einen neuen Aufschwung. Die Nationalsozialisten integrierten diese Idee schließlich in ihr rassistisches Weltbild.

"Verbrasilianisiert" - und nicht mehr für politische Ziele zu haben

Insgesamt schaffte es die Deutschtumsarbeit, die Identifikation zu Deutschland zu stärken, und zwar nicht nur kulturell und wirtschaftlich, sondern auch politisch, wie etwa die von den Einwanderern begangenen Kaisergeburtstage zeigen. Doch viele Einwanderer wollten gar nicht deutsch bleiben. Sie integrierten sich schrittweise in Brasilien, lernten Portugiesisch, nahmen die Staatsangehörigkeit an und unterschieden sich auch nach sozialem Status, Bildung, Konfession, Zeitpunkt der Einwanderung und politischer Meinung. So bedauerten die Deutschtumsakteure immer wieder, dass die meisten Einwanderer bereits „verbrasilianisiert“ und für politische Ziele nicht mehr zu instrumentalisierten seien.

Selbst die bürgerlichen Einwanderer in den Städten, die noch am ehesten mit der Deutschtumsarbeit sympathisierten, sich in lokalen Vereinen organisierten und die deutschsprachige Presse in Brasilien herausgaben, bezeichneten sich nicht mehr als Deutsche, sondern als „Deutschbrasilianer“ und betonten ihre politische Verbundenheit zu Brasilien.

Einwanderer als Gefahr für die innere Sicherheit

Die brasilianische Öffentlichkeit nahm weniger die Vielfalt der Einwanderer wahr als vielmehr die aggressiv nationalistischen Töne aus Deutschland. Kritisiert wurde die mangelnde Integration und ethnische Ghettoisierung der Deutschen. In den beiden Weltkriegen, als Brasilien Deutschland den Krieg erklärte, galten die Einwanderer gar als Gefahr für die innere Sicherheit. Es kam zu Ausschreitungen gegen Deutsche, ihre Schulen und Zeitungen wurden verboten und in den 1940er Jahren gar die Nutzung der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit untersagt.

Die Nationalisierungsmaßnahmen des Staates umfassten auch ethnisch durchmischte Ansiedlungen, um „Zysten“ zu vermeiden, wie es brasilianische Soziologen in den 1930er Jahren formulierten. Während des Krieges wurden deutsche Staatsbürger in Brasilien interniert, darunter Pfarrer und Lehrer, die mit den Nationalsozialisten sympathisierten. Deutsche Staatsbürger hatten sich in Brasilien sogar in Ortsgruppen der NSDAP organisiert, die ebenfalls verboten wurden.

Nach 1945 war die Bewahrung des "Deutschtums" diskreditiert

Die deutschsprachige Presse in Brasilien beklagte Ausländerfeindlichkeit und stilisierte die Einwanderer zu Opfern, doch war spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg die Bewahrung des „Deutschtums“ diskreditiert. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis nachwachsende Generationen sich für ihre Familiengeschichte zu interessieren begannen. Weder die deutsche Sprache noch die deutsche Kultur haben sich umfassend in Brasilien erhalten, und die jungen Generationen sind ganz selbstverständlich Teil der brasilianischen Gesellschaft. Rückbezüge auf das „deutsche Erbe“ kommen heutzutage eher folkloristisch-touristisch daher, wie etwa beim Oktoberfest in Blumenau, das erst seit den 1980er Jahren gefeiert wird.

Nationale Kategorien spielten und spielen für Migrationsgeschichte seit jeher eine wichtige Rolle, da Herkunfts- und Gastländer oft bestimmte Erwartungen an das soziale Verhalten von Migranten formulieren und die Bewahrung oder die Aufgabe der Herkunftskultur fordern. Das kann in allen anderen Einwanderungsländern, allen voran den USA, beobachtet werden. Doch im Alltag der Migranten sind oft andere Fragen wie die wirtschaftliche und private Situation wichtig.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2016 erschien sein Buch „Auswanderung als nationalistisches Projekt. ‚Deutschtum‘ und Kolonialdiskurse im südlichen Brasilien, 1824–1941“ im Böhlau-Verlag (426 Seiten, 80 Euro).

Frederik Schulze

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