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Guter Start. Schülerinnen mit Migrationshintergrund lernen an einem Berliner Gymnasium. Allerdings wächst fast jedes dritte Kind in Deutschland in einer „Risikolage“ auf – unter Migranten überdurchschnittlich viele. Foto: MikeWolff

© Mike Wolff

Risikolage: Die Bildungskluft wächst

Noch nie waren so viele Deutsche so gut gebildet wie heute. Doch zugleich ist der Teil der Bildungsfernen erschreckend hoch. Das Ergebnis: Eine Bildungskluft

Im deutschen Bildungswesen bewegt sich manches in die richtige Richtung. Immer mehr Schüler gehen aufs Gymnasium und streben danach einen Hochschulabschluss an, die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss ist leicht zurückgegangen (von 8,5 auf 7,5 Prozent). Zugleich aber gibt es eine dramatisch wachsende „Bildungskluft“: Die bildungsfernen Schichten kommen aus ihrer Lage nicht heraus. Das geht aus dem Nationalen Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2010“ hervor, den Bund und Länder am Donnerstag in Berlin vorstellten. Mehrere Dutzend Wissenschaftler haben unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) sämtliche Stufen des Bildungssystems von der Kita bis zur Weiterbildung untersucht und dabei erstmals auch die Zukunft des Bildungswesens im Zeichen deutlich abnehmender Geburtenzahlen untersucht.

Fast jedes dritte Kind in Deutschland (29 Prozent) wächst in einer „Risikolage“ auf, durch die seine Bildungschancen beeinträchtigt sein können (siehe Grafik). Seit dem Jahr 2000 habe sich daran nichts geändert, schreiben die Forscher. Sie unterscheiden drei „Risikolagen“: die Eltern sind arbeitslos (soziales Risiko), sie haben ein geringes Einkommen (finanzielles Risiko) oder sie haben nur eine geringe Ausbildung (Risiko der Bildungsferne).

Unter den Kindern von Alleinerziehenden hatte fast jedes zweite Kind dieses Risiko, in Familien mit Migrationshintergrund 42,2 Prozent der Kinder. In Stadtstaaten leben 40 Prozent aller Kinder in einer Risikolage, in Bayern dagegen nur 20 Prozent. Gleich von drei Risikolagen sind im bundesweiten Schnitt 3,5 Prozent der Kinder und Jugendliche.

Die Aussichten für schlecht ausgebildete Menschen werden in Deutschland jedoch immer schlechter, prognostizieren die Wissenschaftler. Bis 2025 wird es immer weniger Jobs für un- und geringqualifizierte Menschen geben, während der Bedarf an Hochschulabsolventen steigt. Demnach werden 1,3 Millionen mehr Menschen ohne Berufsabschluss auf dem Arbeitsmarkt sein, als benötigt werden.

Denn der Dienstleistungssektor wird sich weiter ausdehnen. Im Jahr 1970 entfielen rund 48 Prozent der Bruttowertschöpfung auf Dienstleistungen, 2009 waren es 73 Prozent. 70 Prozent aller Erwerbstätigen sind heute in Dienstleistungsberufen beschäftigt. Unter den Frauen sind es sogar 87 Prozent. Die Wissenschaftler rechnen damit, dass die Zahl der Jobs im Gesundheitswesen, in der Altenpflege oder im Erziehungswesen auf der mittleren und höchsten Qualifikationsebene in Zukunft weiter zunimmt. Da zugleich die Zahl der Jobs in typischen Männerberufen immer geringer wird, „sollte auch die Ausbildung von Männern in von Frauen dominierten Bereichen gezielt gefördert werden“.

Generell müsse sich das Bildungswesen auf die Folgen des technologischen Fortschritts einstellen: In der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft werden Menschen gebraucht, die analytisch denken können und starke Kommunikations- und Problemlösekompetenzen haben.

Allerdings hat die Zahl der Männer zwischen 30 und 35, die keinen beruflichen Bildungsabschluss haben, seit Jahrzehnten zugenommen: Mit 17 Prozent lag sie im Jahr 2008 deutlich höher als bei den 60- bis 65-Jährigen. Bei Frauen ist das Bild umgekehrt, sie haben im Bildungswesen aufgeholt.

Menschen mit Migrationshintergrund sind von Bildungsferne deutlich häufiger betroffen als der Schnitt der Bevölkerung. Nur 1,5 Prozent der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund haben keinen allgemeinen Schulabschluss. Doch unter den Migranten sind es 13 Prozent. Ohne beruflichen Abschluss sind zwölf Prozent aller Männer und Frauen, die keinen Migrationshintergrund haben, unter den Migranten aber 39 Prozent. Bei türkischstämmigen Männern zwischen 20 und 30 haben 41,3 Prozent keinen Berufsabschluss, bei den türkischstämmigen Frauen sogar 47,5 Prozent.

Der Anteil von Jugendlichen, die nach der Schule im Übergangssystem zur Berufsbildung sind, weil sie keinen Ausbildungsplatz haben, ist der Studie nach deutlich rückläufig, liegt aber immer noch bei 34 Prozent. Von den deutschen Ausbildungsinteressenten ohne Hauptschulabschluss münden drei Viertel ins Übergangssystem ein, von denen mit Hauptschulabschluss die Hälfte (48 Prozent). Bei den ausländischen Jugendlichen sind es 88 Prozent und 67 Prozent.

Gelingt es dem Bildungswesen nicht, die Migranten zu erreichen, wird sich das Problem verschärfen. Denn ihr Anteil an der Bevölkerung wächst. In Ballungsräumen wie in Frankfurt am Main haben heute bereits bis zu 72 Prozent der Kleinkinder unter drei Jahren einen Migrationshintergrund.

Die Forscher loben, dass die Zahl der jüngsten „Bildungsteilnehmer“, der unter Dreijährigen in Kitas, steigt: in Ost- und in Westdeutschland von 2006 bis 2009 um sieben beziehungsweise um sechs Prozentpunkte. Die Bildungsbeteiligung der Dreijährigen liegt jetzt im Osten bei 92 Prozent, im Westen bei 83 Prozent.

Kritisch bewerten die Wissenschaftler hingegen die vorschulische Sprachstandserhebung und die Sprachförderung. In 14 Ländern würden 17 unterschiedliche Messverfahren eingesetzt, meist gebe es keine Empfehlungen für die Pädagogen, wie sie ihr Ziel am besten erreichen könnten. Heterogen ist auch der zeitliche Umfang der Förderung (von zwei bis 15 Stunden in der Woche über drei bis 18 Monate). In Bremen gelten 53 Prozent der Vorschulkinder als förderungsbedürftig, im Saarland nur 13 Prozent.

Negativ bewerten die Wissenschaftler auch, dass der Anteil von Schülern an Förderschulen steigt: Von 1999 um 0,5 Prozentpunkte auf einen Anteil von 4,9 Prozent aller Schüler. In Mecklenburg-Vorpommern ist der Anteil der Förderschulen mit 11,7 Prozent mehr als zweieinhalb mal so hoch wie in Rheinland-Pfalz (4,3 Prozent). Der Anteil von Schülern, bei denen Probleme in der geistigen Entwicklung, in der Sprachfähigkeit und in der emotionalen und sozialen Entwicklung festgestellt wurden, habe in den letzten 15 Jahren zugenommen. 63 Prozent der Förderschüler sind männlich. Überrepräsentiert seien Schüler aus Albanien und dem Libanon mit Quoten von 13 Prozent und mehr.

Wie auch andere EU-Länder hat Deutschland es noch nicht geschafft, den Anteil von frühzeitigen Schulabgängern (also 18- bis 25-Jährigen, die keinen Abschluss des Sekundarbereichs II haben, aber nicht an Aus- und Weiterbildungen teilnehmen) auf unter zehn Prozent zu drücken. Doch Deutschland ist mit 12 Prozent näher an diesem Ziel als der EU-Durchschnitt (15 Prozent).

Die Zahl der Sitzenbleiber nahm an allen Schultypen leicht ab, von 2,7 Prozent im Jahr 2006/2007 auf 2,2 im Jahr 2008/2009. Allerdings zeigten sich große Unterschiede zwischen den Ländern.

Die Wissenschaftler loben zwar, dass sich der Anteil von Schülern, die Ganztagsangebote nutzen, in den vergangenen Jahren auf ein Viertel verdoppelt hat. Doch seien längst nicht alle Angebote qualitativ hochwertig.

Gemessen an seiner Wirtschaftskraft gibt Deutschland für Bildung weniger aus als die OECD-Länder im Schnitt. Zwar stiegen die Ausgaben für Bildung zwischen 1995 und 2007 um 22 Milliarden Euro. Doch wegen der in diesem Zeitraum wachsenden Wirtschaft verlief diese Steigerung „unterproportional“ zum Anteil der Bildungsausgaben am BIP. Er schrumpfte zwischen 1995 und 2007 von 6,8 Prozent auf 6,1 Prozent, im Jahr 2008 stieg er leicht auf 6,2 Prozent. Allerdings erhöhte sich der Anteil der Bildungsausgaben an den öffentlichen Gesamtausgaben von 8,1 Prozent im Jahr 2000 auf neun Prozent im Jahr 2007. Über alle Bildungsbereiche hinweg verschlechterte sich die Betreuungsrelation jedoch. So hätten die ostdeutschen Hochschulen seit 2002 ihren besseren Personalschlüssel „eingebüßt“, weil die Zahl der Studierenden erheblich wuchs.

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich der Personalbestand im Zuge der demografischen Entwicklung im Jahr 2025 im gesamten Bildungswesen von 1,19 Millionen auf eine Million Vollzeitkräfte verringern wird. Damit werden 20 Milliarden Euro frei. Diese Mittel sollten aber nicht eingespart werden, meinen die Wissenschaftler. Sie seien für Qualitätsverbesserungen einzusetzen, um die großen Herausforderungen des deutschen Bildungswesens überhaupt bewältigen zu können.

Der Präsident des Deutschen Studentenwerks, Rolf Dobischat, bezeichnete den Bericht als „im höchsten Maße alarmierend“. Um die Zahl der Gering- oder Nichtqualifizierten zu reduzieren, gebe es einen erheblichen Investitionsbedarf. Priska Hinz von den Grünen erklärte, der Bund müsse sich vor allem beim Übergang von der Schule in den Beruf engagieren und die Weiterbildung stärken. Der am Mittwoch im Kabinett beschlossene Einsatz von „Bildungslotsen“ für lerngefährdete Jugendliche reiche bei weitem nicht aus.

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