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Einzelgänger. Psychische Störungen können dazu führen, dass Betroffene isoliert sind. Häufig sind die Probleme vorübergehend.

© Mauritius/Enzinger

Psychische Leiden: Junge Erwachsene benötigen besondere Therapieangebote

Jugendliche haben häufiger psychische Probleme. Diese können Vorboten für spätere Erkrankungen sein. Doch die Behandlung für diese Altersgruppe ist verbesserungsbedürftig, meinen Fachgesellschaften.

Da ist Maik, der den Spitznamen „Psycho“ trägt, weil er über die Alkoholprobleme seiner Mutter und die Abwesenheit seines Vaters nicht hinwegkommt. Oder sein neuer Freund Andrej, der in der Schule äußerst schwankende Leistungen zeigt, aber mit 14 lässig im gestohlenen Auto über Land fährt. Und schließlich Isa, das Mädchen, das auf der Müllhalde lebt. Wolfgang Herrndorf hat das Adoleszenten-Trio in seiner Erzählung „Tschick“ trefflich beschrieben. Sie strotzen vor Kraft, verfügen über eine schnelle Auffassungsgabe und über einen wachen Blick auf Menschen. In manchen Momenten wirken sie fast erwachsen, und doch sind sie ganz besonders verletzlich.

Ein Psychiater wie Harald Freyberger vom Uniklinikum in Greifswald wählt naturgemäß eine andere Sprache, um diese Phase des Umbruchs zu beschreiben. Auf dem gemeinsamen Hauptstadtsymposium der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde und der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Berlin sprach er von der „fluktuierenden Entwicklung zwischen Bestreben nach Autonomie und Anlehnungsbedürftigkeit“. Eine Ursache der „unerhörten Entwicklungsdynamik“ des zweiten Lebensjahrzehnts seien „beträchtliche Umbauprozesse im menschlichen Gehirn“ in dieser Lebensphase.

Unterschiedliches Tempo beim Umbau des Gehirns

Dieser Umbau erfolgt mit unterschiedlichem Fortschritt. Der präfrontale Cortex, an der Stirnseite des Gehirns gelegen und zuständig für bedächtiges Abwägen und rationale Kontrolle, ist gewissermaßen der Spätentwickler. Er muss gegenüber dem für Emotionen zuständigen – und wesentlich frühreiferen – limbischen System aufholen. „Viele typische Entwicklungsprobleme des Kindes- und Jugendalters verlieren sich dann hoffentlich“, sagte Freybergers Kollege Jörg Fegert von der Uniklinik in Ulm.

Einige jedoch sind Vorboten späterer Leiden: Die Hälfte aller psychischen Störungen, die junge Erwachsene haben, haben bereits in der Kindheit oder in der Pubertät begonnen. Das zeigen Längsschnittstudien, bei denen die Entwicklung ausgewählter Personen über mehrere Jahre verfolgt wird. So haben die meisten Erwachsenen, die unter einer Borderline-Störung leiden, als Jugendliche Handlungen vollzogen, die Psychiater als „selbstverletzendes Verhalten“ bezeichnen. „Meist beginnen sie im Alter von 13 bis 14 Jahren damit, viele hören um das 16. Lebensjahr wieder damit auf“, berichtete Paul Plener von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum in Ulm.

Das Zufügen von Schmerz reduziert Stress und Angst

Inzwischen ist belegt, dass bei Jugendlichen, die sich die Haut ritzen, der für die Bewertung von Emotionen zuständige Mandelkern (Amygdala) besonders heftig arbeitet, während die Verbindung zwischen der Großhirnrinde und dem limbischen System gestört ist. Experimente zeigten, dass diese Heranwachsenden Stress und Angst reduzieren können, wenn sie sich Schmerz zufügen und dabei auch noch ihr eigenes Blut fließen sehen. „Ein Verständnis dieser neurobiologischen Grundlagen kann der Stigmatisierung entgegenwirken“, meint Plener. Vor allem aber könnte es zu neuen Therapieformen führen, bei denen die Betroffenen lernen, ihre Hirnfunktionen in Krisensituationen besser selbst zu steuern, hofft Plener.

Ein Paradebeispiel für den frühen Beginn einer psychischen Erkrankung ist das Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS. Ein Störungsbild, von dem früher viele meinten, es wachse sich mit den Jahren aus. „Heute wissen wir, dass 60 Prozent der Betroffenen im Erwachsenenalter weiter darunter leiden“, sagte Alexandra Philipsen von der Karl-Jaspers-Klinik in Oldenburg. Erwachsenenpsychiater wüssten jedoch oft über ADHS bei Erwachsenen und dessen typische Erscheinungsformen wie organisatorisches Unvermögen und psychische Labilität zu wenig Bescheid. „Kinder- und Jugendpsychiater haben hier weit mehr Erfahrung.“

Bessere Versorgung gefordert

In einem gemeinsamen Eckpunktepapier der beiden Fachgesellschaften fordern sie nun bessere Versorgung und Forschung für die Phase der Transition, also des Übergangs zwischen beiden Lebensphasen. Diese endet keineswegs mit der juristischen Volljährigkeit, sondern folgt einem individuelleren Timing.

Während bei ADHS das Manko darin besteht, dass man die Störung bei Erwachsenen zu oft nicht mehr vermutet, sind Psychosen bisher die Domäne der Erwachsenen-Psychiatrie. Dabei beginnt etwa die Schizophrenie im Schnitt mit 18 bis 19 Jahren, also „haargenau an der Schnittstelle“, wie Anne Karow sagt, die in der Früherkennungsambulanz für Psychische Störungen am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf speziell für adoleszente Patienten zuständig ist. Sie wünscht sich, dass Diagnosen früher gestellt werden können. „Wir sind heute in vielen Fällen eher eine Späterkennungsambulanz.“

Hier müssten Kinder- und Jugendpsychiater noch aufmerksamer werden. Die Ärzte sollten aber auch versuchen, sich noch besser auf den Umgang mit Patienten in dieser Altersgruppe einzustellen, damit ihre Behandlungsangebote weniger „krawattentragend“ rüberkommen, sagte Franz Resch vom Zentrum für Psychosoziale Medizin in Heidelberg. Die Schwierigkeit: Die Mehrheit der Adoleszenten, die zeitweise „Vorläufersymptome“ einer Schizophrenie zeigen wie Wirklichkeitsverzerrungen oder Lethargie, bleibt von der Krankheit verschont. Nur fünf Prozent von ihnen erkranken später wirklich.

Nicht von starren Altersvorgaben beeindrucken lassen

Nicht allein Unter-, sondern auch Über-Behandlung wäre ein Fehler. Resch plädiert pragmatisch dafür, sich auf die Symptome zu konzentrieren, die die Entwicklung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alltag behindern, vor allem auf die kognitiven Einschränkungen. Und sich dabei nicht von starren Altersvorgaben beeindrucken zu lassen. In Einrichtungen wie dem Heidelberger Frühbehandlungszentrum werden junge Leute zwischen 14 und 28 Jahren behandelt.

Der Umgang mit (in etwa) Gleichaltrigen kann dabei Teil der Therapie sein. „Auf unseren Erwachsenenstationen fühlen sich junge Menschen oft vollkommen deplatziert“, berichtet Iris Hauth vom St.-Joseph-Krankenhaus in Berlin-Weißensee. Zu diesem Gefühl trägt nach Ansicht der Fachgesellschaften auch das allgemeine gesellschaftliche Phänomen der bis ins Alter von Mitte 20 verlängerten Adoleszenz bei. Bei jungen Menschen, die mit psychischen Störungen zu kämpfen haben, reifen einzelne Hirnareale zudem auch biologisch verzögert und nach anderen Mustern, wie beim Symposium deutlich wurde.

Dass in der Psychiatrie Übergänge für diese Phase fehlen, ist keineswegs ein rein deutsches Problem. Das zeigt das EU-geförderte Acht-Länder-Projekt „Milestones“, das von der britischen Universität Warwick geleitet wird und nach evidenzbasierten Lösungen sucht. Das Fazit der Forscher um Swaran Singh: „Die derzeitige Aufteilung der psychiatrischen Zuständigkeiten führt zur Schwächung des Hilfssystems ausgerechnet an der Stelle, an der es am robustesten sein müsste.“

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