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Sprachwandel ist immer. Was zur Norm des Deutschen avanciert, entscheidet die deutsche Sprachgemeinschaft, nicht die Linguistik, stellen die Sprachwissenschaftler klar.Foto: imago/Steinach

© imago/Steinach

Sprachentwicklung: Mein Deutsch, dein Deutsch

Schauderhaft kreativ: Der „Bericht zur deutschen Sprache“ beschreibt Phänomene wie das Gendersternchen und sterbende Dialekte.

Wie geht es dem Deutschen? Aus konservativer Sicht nicht besonders gut: Die deutsche Sprache wird von Anglizismen überwuchert, der Genitiv scheint so schwer angeschlagen wie die Dialekte, und die Orthografie ist von der Rechtschreibreform verstümmelt. Zusätzlich wird das Deutsche von Randgruppen gequält: Nach dem großen I der FeministInnen muss es das Gendersternchen erdulden, Jugendliche mit Migrationshintergrund erfinden in ihrem wilden Sprach-Mischmasch eine neue Grammatik, und in der Politik werden Wahlprogramme in „Leichter Sprache“ zum Standard erhoben. Allerdings: All diese Phänomene lassen sich auch optimistisch betrachten. Dann zeugt der Sprachwandel von der großen Flexibilität der deutschen Sprache, die dank der Kreativität ihrer Sprecherinnen und Sprecher ständig reicher wird.

Verfällt die deutsche Sprache oder blüht sie? „Weil Nani hatte keine Zeit“, „wegen dem schlechten Wetter“ – solche Sätze müssten der Eleganz des Deutschen ja eigentlich keinen Abbruch tun, erklärt der Linguist Wolfgang Klein (Nijmegen). Er selbst fände solche Formulierungen aber „schauderhaft“: „Was von den Normen abweicht, die man uns in der Kindheit eingebleut oder eingebläut hat und die von den Autoritäten eingehalten werden, empfindet man als falsch, als schlecht, als hässlich, als Deppensprache; es kennzeichnet den Ungebildeten. Varietäten sind aber nie in sich selbst falsch. Sie sind nur anders als jene, die man selber hochhält.“ Klein präsentierte am Mittwoch in Berlin gemeinsam mit anderen Linguistinnen und Linguisten den „Zweiten Bericht zur Lage der deutschen Sprache“.

Die Linguistik betrachtet sich nicht als Sprachpolizistin, sie sieht es als ihre Aufgabe, die Sprache zu beschreiben: „Die letzte Normautorität ist aus dieser Sicht die Sprachgemeinschaft selbst“, erklärte der Potsdamer Linguist Peter Eisenberg. „Es macht keinen Sinn, gegen den Sprachgebrauch normativ anzustinken.“

Das Gendersternchen - ein "Willkürakt"

Eisenberg hat gleichwohl verschiedene Phänomene gesichtet, die in der Öffentlichkeit Besorgnis erregen. So geht er, ein entschiedener Gegner der Rechtschreibreform, davon aus, dass diese „dem Orthographieunterricht quantitativ und qualitativ viel Wasser abgegraben hat“, was mit ein Grund für die nachlassenden Rechtschreibfähigkeiten bei Schülern sei. Den Wunsch nach „politisch korrekter Sprache“ hält Eisenberg für eine Bevormundung. Auch geschlechtergerechte Sprache („BäckerInnen“, „Bäcker_innen“ oder „Bäcker*innen“) lässt er nicht wie andere Linguisten als nützliche Innovationen der Sprachgemeinschaft gelten. Denn hier handle es sich nicht um sprachliche Evolution, sondern um „Willkürakte“.

Auch das neue Phänomen des „Vorfeldkommas“ („Nach all diesen und vielen weiteren Erfahrungen, hat die Firma das Geschäftsmodell neu formuliert“) tue dem „gebildeten Sprachteilhaber weh“, sagte Eisenberg. Würde das Vorfeldkomma massenhaft auftreten, etwa in 50 oder 60 Prozent der entsprechenden Sätze, werde es zu einer impliziten Norm – die Sprecher empfinden es als „normal“, woraufhin die Linguistik darüber nachdenken müsste, eine neue Kommaregel (also eine explizite Norm) zu formulieren. Davon sei man aber weit entfernt, das Vorfeldkomma sei in den großen linguistischen Korpora kaum messbar.

Beim Genitiv gibt Eisenberg Entwarnung: „Von einer Verdrängung des Genitivs kann man nicht sprechen.“ Auch Anglizismen seien für das Deutsche keine Bedrohung, selbst wenn sie sich während des 20. Jahrhunderts verzehnfacht hätten, der Gesamtwortschatz im gleichen Zeitraum aber nur um weniger als ein Drittel gewachsen sei. Schließlich hätten Anglizismen so gut wie keinen Einfluss auf das bestehende Wortbildungssystem des Deutschen, sie seien „strukturell weitgehend angepasst“ und sogar „einem erheblichen Integrationsdruck ausgesetzt“.

"Sie kommt nicht, weil sie hat keine Zeit"

Auch seien weder das Englische noch „Migrantensprachen“ für neue Wortfolgen verantwortlich („Sie kommt nicht, weil sie hat keine Zeit“). „Weil“ mit Verbzweitsatz sei eine alte Struktur des Deutschen, erklärt Eisenberg. Insgesamt attestiert er der deutschen Standardsprache „eine stabile Verankerung in der Sprachgemeinschaft“. Sprachakademien oder Sprachgesetze wie es sie in Polen und Frankreich gibt, scheinen also nicht nötig.

Allerdings hat sich das Standarddeutsche (umgangssprachlich „Hochdeutsch“ genannt) auf Kosten der dialektalen Vielfalt durchgesetzt. 1500 Jahre lang war der Dialekt die wichtigste Form des gesprochenen Deutsch, stellt Jürgen Erich Schmidt (Marburg) fest. Noch um 1900 habe er die Alltagssprache fast aller Sprecher des Deutschen dargestellt.

Inzwischen beherrschen zwar in Deutschland noch 57 Prozent der Männer und 50 Prozent der Frauen die „echten alten Dialekte“, wie Schmidt in einem Test herausgefunden hat. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede je nach Region und Alter. Im bairischen, alemannischen und im äußersten nordwestniederdeutschen Sprachraum (Ostfriesland) beherrschen fast 100 Prozent der Älteren und zwei Drittel der unter Dreißigjährigen den Dialekt noch aktiv. Aber im Ostfränkischen und Ostmitteldeutschen beherrschen nur noch zwei Drittel der Älteren und ein Drittel der Jüngeren den Dialekt aktiv. Und in den übrigen Sprachräumen beobachtet Schmidt „einen schnellen Verfall der aktiven Dialektkompetenz“. Im Nordhessischen, im Rheinischen und im Mecklenburg-Vorpommerschen sei der Dialekt an die unter 30-Jährigen praktisch nicht weitergegeben worden: „Die aktive Kompetenz liegt nahe Null.“

Das Radio und das Fernsehen verhalfen der Standardaussprache zum Sieg

Möglich gemacht haben den Siegeszug der Standardaussprache das Radio (seit etwa 1930) und das Fernsehen (seit etwa 1950). Bis dahin war die einzige Form des Hochdeutschsprechens der Regiolekt, der der Schriftsprache folgte, aber regionale Merkmale behielt (zum Beispiel im obersächsischen Hochdeutsch „Ton“ als „Don“). Mit der Einführung der Schulpflicht um 1800 wurde dieses landschaftlich geprägte Hochdeutsch von allen Kindern eingeübt. Die Verbreitung der aus dem Bühnendeutsch (1898) hervorgegangenen Standardaussprache über das Radio und das Fernsehen ließ die schriftorientierte Aussprache der Rheinländer, Pfälzer, Obersachsen etcetera nun nicht mehr als Hochdeutsch erscheinen, sie wurde als regional begrenzte Umgangssprache abgewertet, wie Schmidt erklärt.

So existieren neben den Dialekten auch noch die alten Regiolekte, die manche Sprecher des Deutschen mit den Dialekten verwechseln, obwohl es sich eher im Dialekte „light“ handelt (Karten und Tonaufnahmen zu dialektalen Unterschieden in Deutschland unter www.regionalsprache.de). Aber auch hier stellt Schmidt fest: „Der Regiolekt wird standardnäher, die Bandbreite der zur Verfügung stehenden regionalen Ausdrucksformen wird geringer.“

Allerdings haben die Regionalsprachen eine gesellschaftliche Funktion: sie wirken vertrauensbildend, wie Schmidt mit Blick auf neuere Studien zeigt. So hielten Probanden Sprecher des eigenen Regiolekts für intelligenter und gewährten ihnen im Test eher einen Vertrauensvorschuss als anderen Teilnehmern der Studie. Das ist insofern rational, als dass Regiolekte und Dialekte nicht durch Medienkonsum erworben werden, sondern nur in langen Phasen der persönlichen Kommunikation: „Aufgrund der Sprache darf man vermuten, dass der Kommunikationspartner sich in seinem Sozialverhalten von ähnlichen Prämissen leiten lässt wie man selbst“, schreibt Schmidt.

"Er ist voll geil jetzt, macht disch rischtisch platt so, voll der Killer"

Um Zugehörigkeit zur Gruppe geht es auch beim innovativen Deutsch von Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund, in der Öffentlichkeit „bald Türkendeutsch, Kanaksprak, Türkenslang oder Kiezdeutsch“ genannt, wie Norbert Dittmar (Berlin) und Yazgül Eimeek (Münster) schreiben. Der Ethnolekt unterscheide sich deutlich vom „Gastarbeiterdeutsch“ der sechziger und siebziger Jahre; er dient dazu, eine eigene Identität im Gastland der Eltern und Großeltern aufzubauen. Zum Teil wird er auch von deutschstämmigen Jugendlichen übernommen („De-Ethnisierung“). Die Jugendlichen kombinieren Elemente aus dem Türkischen, dem Deutschen und aus Jugendsprachen sowie in Berlin auch aus dem Berlinischen – das Stilrepertoire der Muttersprachler wird dabei jedoch so radikalisiert, dass es als Abweichung empfunden wird: „Aron übertreibt, er hängt sich da voll rein, vallah, er nimmt die Arbeit zu ernst, er ist voll geil jetzt, macht disch rischtisch platt so, voll der Killer.“

Die „Koronalisierung des Ich-Lauts“ („disch“, „rischtisch“), die besonders von türkischstämmigen Jugendlichen benutzt werde, diene offenbar dazu, sich damit als „anders als die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft“ zu erkennen zu geben, er gehört zum „subkulturellen Gegengestus“, erklären Norbert Dittmar und Yazgül Eimeek. Denn während die Generation der türkischen Gastarbeiter tatsächlich Probleme mit der Aussprache des Ich-Lauts hatte, treffe dies auf die junge Generation nicht zu.

Die Forscher stellen fest, dass grammatische Vereinfachungen und der Ausfall von Lautsegmenten oder grammatischen Wörtern wie Artikeln („Da kommt manchmal so Auseinandersetzung raus“) den Zweck haben, rhythmische Muster durchzusetzen, um die Aufmerksamkeit des Gegenübers zu fokussieren, dass sie also „hochgradig funktional“ sind.

Doch verstießen diese Jugendlichen damit gegen die bürgerlichen Machtstrukturen des sprachlichen Knigge und würden von dessen „Torhütern“, die hier sprachliche Defizite unterstellen, nicht reingelassen. Manche sähen sogar den formalen Bestand des Standarddeutschen bedroht und „den Sprachstolz der nativen Deutschen“ herabgesetzt „in dem moralischen Sinne: ,da tickt die Uhr des korrekten Sprachgebrauchs gegen uns’“.

„Vielfalt und Einheit der deutschen Sprache. Zweiter Bericht zur Lage der deutschen Sprache“. Hrsg. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften 2017. Stauffenberg Verlag, 331 Seiten, 29,95 Euro.

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