zum Hauptinhalt
„Hau ab“. Seit dem Beginn der Massenproteste gegen das Mubarak-Regime am 25. Januar 2011 zerrissen Demonstranten Plakate mit dem Konterfei des Herrschers, forderten sein Abtreten. Auch religiöse Autoritäten werden zunehmend infrage gestellt, beobachtet Bauer. Foto: AFP

© AFP

Ein Jahr Arabischer Frühling: „Ein unglaublicher Bruch mit Autoritäten“

Islamforscher Thomas Bauer erzählt "eine andere Geschichte des Islams", in der Toleranz von Vieldeutigkeit eine große Rolle spielt. Der Arabische Frühling weckt Hoffnung auf neue Vielfalt, sagt Bauer im Tagesspiegel-Interview.

Herr Bauer, im Arabischen Frühling hat sich ein neues Bewusstsein für die historischen und religiösen Wurzeln gebildet. In welche Richtung geht die Identitätssuche?

Mit dem Arabischen Frühling geht eine lange Periode der Erstarrung zu Ende, in der es immer wieder Versuche gab, mithilfe von Ideologien zu einer neuen Identität zu kommen. Der Panarabismus hat wenige sofort wieder gescheiterte Vereinigungsversuche hinterlassen, der Sozialismus hat nicht zu allgemeinem Wohlstand geführt, der Kapitalismus nur zu einem weiteren Auseinanderdriften von Arm und Reich. Und auch dort, wo man islamistische Ideologien ausprobiert hat, wie im Iran, ist die Vorbildfunktion sehr rasch wieder verschwunden. Der Islamismus ist letztlich der Versuch, nach den westlichen Ideologien, von denen etwa die Diktaturen in Ägypten und Tunesien geleitet waren, eine eigene Ideologie zu schaffen. Das ist dann aber kein Rückgriff auf die tatsächliche eigene Geschichte, sondern auf ein vermeintliches „goldenes Zeitalter“.

Und welche Orientierungsangebote werden da gemacht?

Die Salafiten wollen zurück in die Zeit des Propheten Mohammed und der folgenden Generationen, in denen angeblich der wahre islamische Staat verwirklicht war. Für mich ist das ein Disney-Land-Islam, denn wir wissen zu wenig darüber, um daraus Anweisungen für die Gegenwart ziehen zu können. Die Nationalisten beten andererseits die Argumente des Westens nach, nach denen das goldene Zeitalter im 8./9. Jahrhundert zu suchen ist, als die griechische Philosophie ins Arabische übersetzt wurde und eine rationalistische Theologenschule Staatsdoktrin war.

Sie haben diesen Konzepten mit einem viel beachteten Buch über die „Die Kultur der Ambiguität“ im vergangenen Jahr „Eine andere Geschichte des Islam“ entgegengestellt. Was bedeutet die Akzeptanz von Mehr- oder Vieldeutigkeit, die Sie im klassischen Islam des Mittelalters erkennen?

Über Jahrhunderte war der Islam gegenüber einer Vielfalt von Wertvorstellungen und Lebensentwürfen sehr viel toleranter, als es heute erscheint. Dieses Wissen über die klassische Zeit, die gut 1000 Jahre lang die islamisch-arabische Kulturgeschichte prägte, ist im 19. und 20. Jahrhundert weitgehend verloren gegangen – im Westen und im Nahen Osten. Ambiguitätstoleranz bedeutet, Phänomene der Mehrdeutigkeit oder Vagheit zu akzeptieren, sie sogar gut zu finden. Und das war in der klassischen arabischen Welt in allen gesellschaftlichen Sphären der Fall.

Was bedeutete das für die Religionsausübung?

Es existierten unter anderem durch mündliche Überlieferung und Abschriften verschiedene Korantexte mit Varianten. Da hat man nicht etwa versucht, einen völlig variantenlosen Text herzustellen, sondern eine bestimmte Auswahl von Lesarten für den Kult und die Rechtsauslegung getroffen, und die anderen wurden weiterhin unter Gelehrten diskutiert. Aber man hat nie versucht, sie zu eliminieren. Ähnliches gilt auch für Korankommentare. Moderne Korankommentatoren wissen immer ganz genau, was eine Koranstelle aussagt. Die klassische Ambiguitätstoleranz ist nicht mehr da.

Wie wirkte sich die Akzeptanz von Vieldeutigkeit auf den Alltag der Menschen aus?

Was etwa den Konsum von alkoholischen Getränken anging, war man sich in der Rechtsauslegung einig, dass der Wein verboten ist. Ab und zu ließen Sultane, die ihre religiöse Legitimation zur Schau stellen wollten, die Kneipen schließen und den Wein ausschütten. Zur selben Zeit aber hat man auf Arabisch, Persisch und Türkisch mehr Weinliteratur hervorgebracht als in irgendeiner anderen Sprache. Die beiden Sphären existierten nebeneinander. Es war nicht verboten, Wein zu bedichten, es war nur verboten, ihn zu trinken.

Sie beschreiben auch eine größere Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt, etwa der Homosexualität.

Die sexuelle Orientierung als Teil der persönlichen Identität ist ja ein Konzept aus dem 19. Jahrhundert, das Eindeutigkeit schaffen sollte. Sowohl in Europa als auch im arabischen Raum gab es vorher nur die Unterscheidung zwischen von der Religion erlaubten sexuellen Handlungen und verbotenen. In der islamischen Welt galt sexueller Verkehr zwischen Männern zwar als Sünde, aber Liebe unter Männern wurde nicht als tadelnswert erachtet. Es wurden unendlich viele homoerotische Liebesgedichte geschrieben, teilweise sogar von Religionsgelehrten selbst. Als man aber mit westlichen Vorstellungen von Homosexualität als Krankheit konfrontiert wurde, verschwanden diese Gedichte sehr plötzlich.

Allgemein machen Sie westlichen Einfluss verantwortlich für die Radikalisierung des Islam. Entstand sein Erscheinungsbild als eine Religion mit besonders strengen Glaubenssätzen nicht aus sich selbst heraus?

Natürlich bringt jede Religion ihre Puritaner, ihre Scharfmacher und Vereinheitlicher hervor. Nur haben sie sich im Islam vor dem 19. Jahrhundert nie durchgesetzt. Als im 18. Jahrhundert Abd al Wahhab seine puritanische Sekte auf der arabischen Halbinsel gründete, die heutigen Wahhabiten, war das ein Provinzereignis. Hier musste tatsächlich der Westen als Katalysator des Islamismus wirken.

Wie hat der Normierungsdruck des Westens konkret gewirkt?

Seit der Landung Napoleons in Ägypten im Jahr 1798 wuchs die westliche Dominanz auf wirtschaftlichem und militärischem Gebiet dermaßen, dass die islamischen Eliten gar nicht anders konnten, als eindeutig Stellung zu nehmen. Um der westlichen Übermacht etwas entgegenzusetzen, hat man ein fest gefügtes Gebäude an Dogmen geschaffen. Nur so konnte man etwa das oktroyierte Recht der Kolonialherren für unislamisch erklären.

Weckt der Arabische Frühling bei Ihnen Hoffnungen auf eine Renaissance der Ambiguitätstoleranz?

Ansatzweise gibt es sie in der islamischen Welt auch heute noch. Und zwar dort, wo die Ideologie nicht so mächtig ist, etwa auf dem Land, wenn es den Leuten einigermaßen gutgeht. Da leben noch immer verschiedene Religionen friedlich zusammen. In Syrien, in Maalula, dem größten der noch aramäischsprachigen Dörfer, beten in der Kirche der Heiligen Thekla muslimische und christliche Frauen miteinander. In Ägypten werden mancherorts christliche Feste gemeinsam gefeiert, auch wenn islamische Rechtsgutachten das verbieten.

Und wie sehen Sie die neuen Bewegungen?

Die Facebook-Jugend hat einen geradezu unglaublichen Bruch mit den Autoritäten vollzogen. Als Mubarak den Demonstranten zurief „Aber ich bin doch euer Vater“, antworteten sie „Hau ab“. Bei den ärmeren Schichten, den Ungebildeten, sehen wir einen deutlichen Wunsch, neuen religiösen Ideologien zu folgen. Doch die Hoffnung richtet sich gleichzeitig auf eine Pluralisierung. Das religiöse Feld autonomisiert sich derzeit wieder stärker vom Staat. Gerade das Internet bietet enorme Möglichkeiten, man sucht sich seinen Mufti auf einer Internetseite. Junge Muslime organisieren sich in Chatrooms und diskutieren über Glaubensvorschriften. Dadurch hat man jedenfalls wieder diese vielen Auslegungen, die nebeneinanderstehen.

Was erwarten Sie von den neuen Studiengängen an deutschen Universitäten, in denen künftige Religionslehrer und Imame ausgebildet werden?

Wir hatten bisher im Islam in Deutschland ein Intellektualitätsdefizit. Wenn Muslime hierzulande aufsteigen wollen, haben sie vernünftigerweise Ingenieur- oder Naturwissenschaften und nicht Islamwissenschaft studiert. Deshalb haben wir viele intelligente, gut gebildete Muslime, aber ganz wenige, die sachkundig über den Islam sprechen können. Das beginnt sich jetzt zu ändern, auf Doktorandenebene wachsen gute Leute heran. In Zukunft werden wir in Deutschland ganz andere Debatten über den Islam führen können.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

THOMAS BAUER (50) ist Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Münster. 2011 erschien „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam“ (Verlag der Weltreligionen).

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false