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Kluger Kopf: Albert Einstein im Jahr 1946.

© dpa

Sarrazins Thesen: Was ist Intelligenz?

Für Thilo Sarrazin ist sie vor allem angeboren. Viele Wissenschaftler sehen das aber anders. Schwer zu messen ist sie auf jeden Fall. Sicher ist nur: Die Menschen werden immer schlauer.

WAS VERBIRGT SICH HINTER DEM BEGRIFF INTELLIGENZ?

„Intelligenz ist, was ein Intelligenztest misst.“ So lautet ein leicht abgewandeltes Zitat des amerikanischen Psychologen Edwin Boring von 1923. Kritiker haben es oft zur Hand, um mit diesem Zirkelschluss den Intelligenzbegriff und insbesondere Intelligenztests ad absurdum zu führen. Boring hatte es umgekehrt gemeint. Er war überzeugt, dass die Tests tatsächlich Intelligenz messen konnten.

1997 rangen sich 52 Intelligenzforscher zu einer Definition durch:

„Intelligenz ist eine allgemeine Begabung, die die Fähigkeit zum Überlegen, Planen, Problemlösen und abstrakten Denken sowie zum Verstehen komplexer Ideen, zum schnellen Lernen und zum Lernen aus Erfahrung beinhaltet. Sie ist kein reines Bücherwissen, keine eng begrenzte akademische Fertigkeit, kein gewieftes Bewältigen von Tests. Eher reflektiert sie breiteres und tieferes Verstehen unserer Umwelt.“

1904 postulierte der britische Psychologe Charles Spearman einen allgemeinen Intelligenzfaktor namens „g“ („general factor“). Dieser Faktor trage zu den intellektuellen Leistungen entscheidend bei und werde durch spezielle Fähigkeiten ergänzt. Wenn also Logik, räumliches Denken, Gedächtnis, schnelle Auffassungsgabe und Wortschatz getestet werden, so verkörpert jeder dieser Bereiche eine eigene geistige Fähigkeit. Und doch ist immer auch „g“ im Spiel. Der Intelligenzfaktor ist ein Universalschlüssel zum Lösen geistiger Probleme, der zwar nicht ausreicht, aber ohne den gar nichts geht.

Bis heute ist „g“ der „heilige Gral“ der Intelligenzforschung. Aber es gibt Konkurrenz. Der Spearman-Schüler Raymond Cattell teilte 1971 die Intelligenz in zwei Komponenten auf. Mit fluide (flüssige) Intelligenz bezeichnete er jene geistigen Fähigkeiten, die beim Prozess des Denkens und Problemlösens eine Rolle spielen. Als kristalline Intelligenz definierte Cattell das Produkt des Denkens, etwa Faktenwissen und Vokabelschatz. Eine „Theorie der erfolgreichen Intelligenz“ hat der US-Psychologe Robert Sternberg entwickelt. Erfolgreich ist, wer analytische, kreative und praktische Intelligenz kombiniert.

WAS BESAGT EIN INTELLIGENZTEST?

Intelligenztests sollen in erster Linie den allgemeinen Intelligenzfaktor „g“ messen. Ein Maß für ihn ist der Intelligenzquotient IQ. Er setzt die Intelligenz eines Individuums ins Verhältnis zu anderen Personen der gleichen Altersgruppe. Als Durchschnittswert der Bevölkerung gilt ein IQ von 100. Knapp 70 Prozent der Bevölkerung haben einen IQ zwischen 85 und 115, versammeln sich also um den Mittelwert. Der IQ eines Menschen bleibt in der Regel stabil.

IQ-Tests sind umstritten, weil sie nach Meinung der Kritiker die Unterschicht benachteiligen, kulturell nur schwer übertragbar sind, kreative Leistungen und andere nichtanalytische geistige Fähigkeiten nicht berücksichtigen und ein Instrument der Diskriminierung sein können.

Test-Verfechter betonen seine prognostische Bedeutung: Wer einen hohen IQ hat, hat’s meist leichter im Leben. Gutes Abschneiden in der Schule, beruflicher Erfolg, stabile Gesundheit und längere Lebenserwartung sind häufiger bei Menschen mit höherem IQ anzutreffen. Einem Menschen mit eher niedrigem IQ bläst dagegen öfter der Wind ins Gesicht. Eine Erfolgsgarantie ist ein ansehnlicher IQ jedoch bei Weitem nicht, und umgekehrt kann man es mit durchschnittlichem IQ durchaus weit bringen.

WIE VIEL INTELLIGENZ GEHT AUF DAS KONTO DER UMWELT, WIE VIEL IST VERERBT?

Von den Extremen „alles ist genetisch“ und „alles ist milieubedingt“ ist die Intelligenzforschung abgekommen. Heute ist klar, dass sowohl Umwelteinflüsse als auch die Veranlagung an der geistigen Entwicklung beteiligt sind. Beide wirken zusammen und sind oft nur schwer auseinanderzuhalten. Auch der Zufall spielt eine Rolle, etwa in Form nicht vorhersehbarer individueller Lebensereignisse.

Adoptionsstudien haben belegt, dass eine günstige, fördernde Umwelt einen positiven Einfluss auf die Intelligenz hat. Man schätzt, dass ein Viertel der Intelligenzunterschiede durch die familiäre Umgebung begründet ist. Ein wichtiger unterschätzter „Umwelteinfluss“ ist bereits der Mutterleib für das Ungeborene.

Etwa die Hälfte der Intelligenzunterschiede zwischen Menschen ist genetisch bedingt, schätzt Hans-Hilger Ropers vom Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin. Überraschenderweise steigt der Einfluss der genetischen Unterschiede auf die Intelligenz mit den Jahren an, von etwa 30 Prozent in der frühen Kindheit auf 70 bis 80 Prozent bei Erwachsenen.

Dass Gene für die geistige Leistungsfähigkeit wichtig sind, liegt auf der Hand. Schließlich enthalten sie das „Kochrezept“ für unser Denkorgan, das Gehirn. Der Bauplan des Gehirns ist in den Erbanlagen verzeichnet. Trotzdem tun sich Forscher schwer damit, „Intelligenz-Gene“ zu finden. Bislang sind nur eine Handvoll von ihnen bekannt, und ihr jeweiliger Einfluss ist gering.

KANN MAN INTELLIGENZ „ZÜCHTEN“?

Der Vorschlag Thilo Sarrazins, mit einer hohen Prämie junge Akademikerinnen zum Kinderkriegen zu überreden, zielt in diese Richtung. Sarrazin hofft, mit dieser Maßnahme den IQ der Bevölkerung zu heben. „Der Effekt ist viel zu gering“, sagt dagegen der Genetiker Ropers. So gering, dass man vermutlich Jahrhunderte brauchen würde, um überhaupt eine gewisse Wirkung zu beobachten. Wer die Intelligenz der Bevölkerung steigern will, kann mit Investitionen in die Bildung also deutlich mehr erreichen.

Singapur verfolgte seit 1984 eine ähnliche eugenische Politik wie von Sarrazin gefordert, hat sie aber wieder aufgegeben. Jetzt fördert man die Fruchtbarkeit ganz allgemein, ohne Ansehen des Schulabschlusses.

Ein statistischer Grund, warum sich der IQ nicht beliebig steigern lässt, ist die „Regression zur Mitte“ – Extreme schwächen sich ab. Dieses Phänomen hat zur Folge, dass das Kind einer Hochbegabten vermutlich weniger intelligent ist. Sein IQ tendiert zur Mitte, weg von der seltenen Hochbegabung, hin zum häufigen Durchschnitt. Das Gleiche gilt auch andersherum. Das Kind einer unterdurchschnittlich Begabten wird tendenziell intelligenter sein.

GIBT ES BEVÖLKERUNGSGRUPPEN, DIE WENIGER INTELLIGENT SIND ALS ANDERE?

1994 veröffentlichten die US-Sozialwissenschaftler Richard Herrnstein und Charles Murray „The Bell Curve“ („Die Glockenkurve“, gemeint ist die Verteilungskurve des Intelligenzquotienten), ein in Amerika höchst umstrittenes Werk, das manche Ähnlichkeit mit Sarrazins Buch hat. Eine Hauptthese von Herrnstein und Murray: Während eine abgehobene weiße Elite sich von der Realität abkoppelt, sackt ein großer Teil der vornehmlich schwarzen Unterschicht immer weiter ab. Ein wesentlicher Grund dafür sei der durchschnittlich niedrigere IQ der Schwarzen. „Wem die Glockenkurve schlägt“, kommentierte ein US-Magazin. Es stimmt, dass der IQ der schwarzen Amerikaner um durchschnittlich zehn bis 15 Punkte unter dem der weißen US-Bürger liegt. Aber die meisten Wissenschaftler bezweifeln anders als Herrnstein und Murray, dass hierfür Gene die Ursache sind, und sehen stattdessen soziale Gründe. Zudem steigt der IQ ganz allgemein, vermutlich aufgrund kultureller Einflüsse – 15 Punkte in den vergangenen 60 Jahren in den USA und vielen europäischen Ländern. Und die Schwarzen holen stark auf. Ein Viertel der IQ-Differenz wurde in drei Jahrzehnten wettgemacht, ein Einholen ist im Bereich des Möglichen. Untergangsszenarien auf Basis des Intelligenzquotienten könnten sich also als verfrüht erweisen.

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