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Interview: "Diese Typen haben den Koran nie aufgeschlagen"

Manchmal möchte Lamya Kaddor ihren Schülern am liebsten nur Sechsen geben. Aber dann sagt die Islamkundelehrerin sich: Zum Glück bin ich nicht im Ghetto aufgewachsen. Ein Interview.

Frau Kaddor, Sie sind gläubige Muslima, haben Islamwissenschaften studiert, unterrichten Islamkunde. Hier bei Ihnen in Duisburg wurde vergangenes Jahr die größte Moschee Deutschlands eingeweiht. Darüber haben Sie sich sicher sehr gefreut.

Na ja, ich gehe eigentlich nie in eine Moschee.

Bitte?

Mir passt vieles nicht, was da gepredigt wird – etwa, wenn es um die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau geht. Fast immer spielt die Politik hinein: In der einen Moschee wird gegen Israel gewettert, in der anderen kriegen Sie die türkische Staatspolitik serviert. Auch die Art des Predigens, dieses ständige Ermahnen, gefällt mir nicht.

Sie gelten als Vordenkerin der liberalen Muslime in Deutschland. Viele Menschen bezweifeln, dass es das überhaupt gibt: liberale Muslime.

Und ob es die gibt! Leute wie ich sind die Mehrheit. Wir sind hier aufgewachsen, haben eine Ausbildung gemacht oder studiert. Wir leben hier gut, und wir identifizieren uns mit diesem Staat. Nur glauben wir eben an den Islam.

Ihre Erfahrungen als Lehrerin an einer Hauptschule im Problemviertel Lohberg sind nicht dazu angetan, das Image des Islam zu verbessern. Ihre muslimischen Schüler haben schlechte Noten, hängen einem altertümlichen Ehrbegriff an, sind oft gewalttätig.

Diese Probleme haben nichts mit der Religion, sondern mit der sozialen Herkunft zu tun. Sie betreffen auch viele der deutschstämmigen Jugendlichen. Meine muslimischen Schüler sind auch gar nicht religiös, sie behaupten das nur, um sich abzugrenzen. Die meisten sind Deutschtürken: In Deutschland werden sie nicht als Deutsche, in der Türkei nicht als Türken akzeptiert. Also bleibt die Religion als Identitätsfaktor. Im Islam ist es einfach, dazuzugehören. Sie müssen keine besonderen Vorleistungen erbringen, um die Religion für sich anzunehmen. Trotzdem wissen meine Schüler so gut wie nichts darüber.

Sie schreiben, einige Ihrer Schüler seien entsetzt gewesen, dass Sie kein Kopftuch tragen.

Ja, für viele der Mädchen gehört das Kopftuch einfach dazu, wie bei anderen die offenen, langen blonden Haare – es geht dabei nicht um religiösen Zwang oder ein politisches Symbol. Keine Einzige konnte mir bislang erklären, warum sie es trägt. Sie sagen: Das steht im Koran. Dann frage ich: Wo denn? Antwort: Das weiß doch jeder, dass das da drin steht! Ich selbst halte das Kopftuch hier im Deutschland des 21. Jahrhunderts einfach für unzeitgemäß. Im 7. Jahrhundert, als Mohammed den Koran empfangen hat, war man ohne das Tuch angreifbar, fast vogelfrei. Diese Schutzfunktion braucht es in der heutigen Gesellschaft nicht mehr, da mich Recht und Gesetz schützen. Ob ich meine Haare zeige oder nicht, ist völlig egal. Ich habe natürlich nichts dagegen, dass jemand Kopftuch trägt, aber ich finde, man sollte wissen, warum.

Sie wollen, dass sich Ihre Schüler kritischer mit der Religion auseinandersetzen?

Genau, kritisch im Sinne von Hinterfragen. Ich frage sie auch: Gibt es Gott? Da sagen die: Um Himmels Willen, so was darf man nicht fragen! Aber sie lassen sich dann doch darauf ein. Umgekehrt nehme ich sie ernst mit ihren Problemen. Wenn ein Junge sagt: Meine Freundin ist schwanger, was soll ich machen? Oder: Mein Vater will eine zweite Frau heiraten, was soll ich tun?

Und was sagen Sie dann?

Wenn man den Koran traditionell auslegt, dann ist die Vielehe zumindest religiös gesehen möglich. Ich erkläre ihnen aber auch, dass ich das nicht gut finde, dass das viel Leid und Verletzungen für die Frauen wie für die Männer bedeutet.

Erwarten die Jungs an Ihrer Schule wirklich, dass ihre künftige Frau als Jungfrau in die Ehe geht?

Teilweise schon, weil sonst die Familienehre beschmutzt ist. Sich selbst nehmen sie aber aus. Bei all dem berufen sie sich auf den Koran – dabei müssen, wenn man dem Koran folgt, beide Geschlechter keusch in die Ehe gehen. Ich mache das konfrontativ im Unterricht: Ich nehme mir jemanden heraus, von dem ich weiß, er hat eine Freundin. Dann erzählt der, wie lange sie schon zusammen sind. Ich frage: Dürfte das deine Schwester auch? Antwort: Nein, wer soll sie denn heiraten, wenn sie keine Jungfrau ist? – Ach, du würdest keine Frau heiraten, die keine Jungfrau mehr ist? – Nö. – Und warum bist du keine Jungfrau mehr?

Wie reagieren dann die Mädchen?

Die freuen sich. Sie wissen ja, dass die meisten männlichen Klassenkameraden Freundinnen haben. Die Mädchen haben auch Freunde, aber im Geheimen. Deshalb sagen sie nichts. Was die Mädchen am meisten ärgert, sind die Jungs, die hinter ihnen herschnüffeln. Eine Schülerin war mit ihrem Freund mal in Oberhausen und wurde dort von einem aus Duisburg gesehen. Der hat das sofort weitergetragen.

Warum begehren die Jugendlichen nicht gegen diese überkommenen Traditionen auf?

Weil sie gar nicht in der Lage sind, zu hinterfragen. Ihnen fehlt es an Bildung.

Oder trauen sie es sich nicht, weil es in den Familien sehr autoritär zugeht?

Bei den meisten gibt es gar keine Autorität. Die Mutter ist überfordert, der Vater ist abwesend, weil er arbeitet oder in einer Teestube rumsitzt. Bei meinen deutschstämmigen Schülern sieht es zuhause nicht besser aus. Die Jugendlichen können sich dann auch nicht anders wehren als durch schreien und schlagen. Morgens sind viele schon so aggressiv aufgeladen, dass man ihnen am liebsten lauter Sechsen geben würde. Die Ehrgeizigen werden gemobbt oder leben in ihrer eigenen Welt. Kaum einer meiner Schüler hat jemals von seinem Vater gesagt bekommen: Ich habe dich lieb. Zuwendung bekommen sie höchstens von der Mutter. Ich habe sie mal gefragt: Findet ihr das nicht komisch? Das ist denen auch aufgefallen, dass das komisch ist.

Warum haben Sie selbst sich so anders entwickelt als viele Ihrer Schüler?

Ich bin in Ahlen in Westfalen aufgewachsen, zunächst in einer Bergmannssiedlung. Als ich acht Jahre alt war, sind wir in einen Stadtteil gezogen, wo es eine gute Schule gab. Das war mein Glück, so bin ich nicht in einem Ghetto aufgewachsen wie viele meiner Schüler. Alle um sie herum sind so wie sie. Keiner ist klüger, ehrgeiziger. Alle leben in den Tag hinein. Meine Eltern kommen aus Syrien, aus dem städtischen Umfeld. Sie sind auch schulisch ungebildet. Aber Disziplin, sich bilden – das war ein großer Wert bei uns. Ich wurde immer gefragt, wie die Klausur gelaufen ist, meine Mutter war hinterher, dass ich Hausaufgaben mache, auch wenn sie inhaltlich nichts verstanden hat. Und doch habe auch ich oft das Gefühl, nicht dazuzugehören. Seit dem 11. September 2001 wird man als Muslim sehr anders angesehen.

Wie äußert sich das?

Vor dem 11. September hat sich niemand darum geschert, dass ich im Zug manchmal arabische Texte lese. Heute gucken die Leute komisch.

Passiert Ihnen so was auch unter Kollegen?

An meinem ersten Tag als Islamlehrerin sagte die Kollegin, die mich der Klasse vorstellte: Achtet mal darauf, wie gut die Frau Kaddor Deutsch spricht! Das saß. Da fühlte ich mich wie eine Ausländerin, obwohl ich nie eine gewesen bin.

Wie reagieren Ihre Schüler auf solche Situationen, in denen sie als Ausländer behandelt werden?

Mit Rückzug. Oder sie sagen: Scheiß Deutsche, scheiß Nazis! Wenn Sie einen pubertierenden 17-Jährigen vor sich haben, türkischer Herkunft, aus sozial schwachem Milieu, ungebildet, Bodybuilder, kahl rasiert – was glauben Sie, wie der reagiert? Da kriegt der andere eins drauf.

Was kann denn, zum Beispiel von Seiten der Politik, getan werden, damit mehr muslimische Kinder so aufwachsen wie Sie – mit Disziplin und Bildung?

Es müssen mehr Kampagnen mit Vorbildern gestartet werden. Jugendliche müssen verstehen, dass Bildung sehr wichtig für Ihre Zukunft ist und dass es eben Sinn macht, zur Schule zu gehen und eine vernünftige Berufsausbildung zu absolvieren.

Die Islamkritikerin Necla Kelek macht den Islam dafür verantwortlich, dass in türkischen Familien vieles schief läuft. In „Die verlorenen Söhne“ schreibt sie, dass im Koran das Recht auf Rache verbrieft sei. In Sure 17, Vers 33 steht: „Und tötet niemand, den zu töten Gott verboten hat, außer wenn ihr dazu berechtigt seid! Wenn einer zu Unrecht getötet wird, geben wir seinem nächsten Verwandten Vollmacht zur Rache.“

Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das steht auch im Alten Testament. Der Koran ist ein Zeugnis des 7. Jahrhunderts. Er spricht zu seiner Zeit. Damals war Rache an der Tagesordnung. Zu sagen, deshalb wird auch heute gemordet, ist schon theologisch falsch. Die Typen, die heute ihre Schwestern wegen der Familienehre umbringen, haben sicher nicht Sure 17 gelesen. Diese Typen haben den Koran nie aufgeschlagen.

Kelek behauptet, der Islam habe sich nicht weiterentwickelt. Er lasse sich nicht verändern.

Wo steht das? Im Koran nicht. Der appelliert: Setzt euren Verstand ein. Der Koran ist ja auch kein einheitliches Buch, sondern sehr schwer verständlich und widersprüchlich. Deshalb muss er in jeder Epoche neu interpretiert werden. Frau Kelek ist Soziologin, ihre Stärke liegt darin, die Probleme, die Wertvorstellungen einiger Muslime zu beschreiben. Sie sie ist keine Islamwissenschaftlerin, keine Theologin. Ihr Rückschluss, dass die Religion an allem schuld sei, ist Quatsch.

Sie sagen doch selbst, dass es keine Moschee gibt, in der Sie sich zu Hause fühlen.

Stimmt. Denn das traditionelle Denken ist institutionell sehr weit verbreitet. Man muss aber Traditionen, wie gesagt, vom Islam trennen.

Warum gibt es so viele Fundamentalisten im Islam?

Unter anderem hat das mit dem Einfluss der ultrakonservativen Wahhabiten zu tun. Die leben mehrheitlich in Saudi-Arabien und vertreten ein Textverständnis, das den Koran sehr wortgetreu auslegt und versucht, das Weltbild aus dem 7. Jahrhundert in die heutige Zeit zu übertragen – inklusive Steinigung, Harem und Vielehe. Dass diese Richtung von so großer Bedeutung ist, liegt am Geld, von dem haben die Saudis dank des Erdöls genug. So haben sie Schulbücher für die Muslime in Bosnien finanziert, in denen die Grundlagen ihres Weltbilds vermittelt werden. Sie vertreiben auch weltweit Koranübersetzungen.

Bleibt die Frage, warum so viele Muslime für diesen Radikalismus empfänglich sind.

Wenn sie es sein sollten, dann weil sie zum Beispiel die Erfahrung machen, dass sie keinen Job finden, wenn sie ein Kopftuch tragen – selbst wenn sie studiert haben. Dann sagt einer: Das liegt daran, dass die Deutschen böse sind, und es ist toll, dass du zu deinem Kopftuch stehst. Da finden sie endlich einmal Bestätigung. Fundamentalisten nutzen den wunden Punkt bei den Leuten aus.

Als Vorbild, wie die Mehrheit mit der muslimischen Minderheit umgehen sollte, nennen Sie ausgerechnet die USA.

Ich will Amerika nicht rosarot malen. Bezeichnend ist, dass die Leute dort sagen: We are Muslim-Americans, egal wo sie ursprünglich herkamen. Hier behauptet dagegen noch kaum jemand voller Stolz: Ich bin deutscher Muslim. Und das hat natürlich damit zu tun, dass in den USA jeder Ami ist, der sich zu den Werten des Landes bekennt und halbwegs die Sprache sprechen kann. Das ist in Deutschland längst nicht so. Zudem sind die amerikanischen Muslime gebildeter, die meisten kamen als Studenten ins Land.

Umgekehrt plädieren Sie auch dafür, dass sich die Muslime stärker anpassen. Moscheen in Europa etwa sollten nicht mehr so orientalisch aussehen. Das ist überraschend, wenn man sich Ihre Wohnung ansieht: Hier stehen Palmen, Wasserpfeifen und ein geschnitztes Kamel, an der Wand hängen eine arabische Kalligrafie und Bilder von Damaskus.

Ich versuche, das Westliche und das Orientalische zu verbinden. Klar – ich finde den Orient toll! Aber die Küche oder mein Fernseher sind eben nicht orientalisch. Bei den Moscheen müsste es genau so sein. Die brauchen vielleicht nicht mehrere Kuppeln, sondern nur ein schmales Minarett, eben moderne Architektur.

Die Moschee im bayerischen Penzberg gefällt Ihnen besonders gut?

Ja, dort finden Sie zum Beispiel auf den Eingangstüren eine arabische Kalligrafie – und genauso groß daneben die deutsche Übersetzung.

Sie wollen einen Verein der liberalen Muslime gründen. Warum?

Um der schweigenden Mehrheit eine Stimme zu geben. Leuten, die ein normales Leben leben, die gläubig sind, deren Leben sich aber eben nicht nur um die Religion dreht. Alle anderen muslimischen Verbände verkörpern so etwas wie eine konservative Partei. Wir wollen eher progressiv sein – unter anderem, um den Konservativen die Lehrpläne für den Islamunterricht nicht allein zu überlassen.

Warum schweigt die Mehrheit denn überhaupt – zum Beispiel zum islamistischen Terror?

Viele befinden sich in einem Dilemma: Wieso muss ich mich, der ich mir nichts habe zu Schulden kommen lassen, ständig für Terroristen rechtfertigen? Zumal ein großer Teil der Opfer des Terrors Muslime sind. Die konservativen Verbände sagen dazu wirklich zu wenig. Und alle anderen, die liberaleren Stimmen, sind Einzelpersonen.

Haben Sie schon viele Rückmeldungen zu Ihrer Initiative erhalten?

Ja, viele wollen mitmachen und bedanken sich bei mir, weil ich ihnen aus der Seele gesprochen hätte – auch viele Frauen, ob mit oder ohne Kopftuch. Bei Facebook habe ich jetzt zahlreiche „Freunde“ und Fans, die ich größtenteils gar nicht kenne.

Für radikale Muslime müssen Sie dagegen eine ungeheure Provokation sein.

Manche Fundis schreiben mir, dass ich den Islam verwässern und falsch darstellen würde. Islamhasser wiederum glauben, ich sei die Schlimmste von allen: Ich würde mich nur als Liberale tarnen und wollte eigentlich missionieren …

Jetzt meldet sich Ihr Mobiltelefon – natürlich mit einem orientalischen Klingelton …

Wenn ich das öffentlich sage, bekomme ich wahrscheinlich Ärger mit den Arabern, aber egal! Das ist das Lied „Du bist mein Leben“ von Umm Kulthum, der ägyptischen Maria Callas – aber gesungen von einem israelischen Popstar.

Lamya Kaddor, 32, arbeitet als islamische Religionspädagogin an einer Hauptschule; sie hat einen Koran für Kinder und Erwachsene veröffentlicht. Vor kurzem erschien ihr Buch "Muslimisch - weiblich - deutsch!" bei CH. Beck. Sie lebt mit ihrem Mann und einer kleinen Tochter in Duisburg. Das Gespräch führten Claudia Keller und Björn Rosen.

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