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Berufsziel Ameisenforscher: Emil Peuschel (links) findet gut, dass er in der Freuen Schule Kreuzberg zu nichts gezwungen werde.

© Mike Wolff

Privatschulen im Trend: Künftige Elite zwischen Lernfreiheit und Leistungsdruck

Emil und David sind Fünftklässler, und beide gehen auf Berliner Privatschulen. Damit zählen sie, so heißt es, zur Elite. Seit dem Pisa-Schock wenden sich immer mehr Eltern von den staatlichen Schulen ab. Aber wie ergeht es den Kindern auf den Privatschulen? Eine Reportage.

Von Barbara Nolte

Früher hätte man sie vielleicht pauschal zu den Privilegierten gezählt, nur weil sie keine staatliche Schule besuchen. David Amirdschanjan und Emil Peuschel, elf und zehn Jahre alt, Fünftklässler. Der eine wohnt in Friedenau und der andere in Kreuzberg. Sie sind Privatschüler. Wie mittlerweile jeder elfte Schüler in Berlin. Ihre Schulen wurden beide 2006 gegründet. Sie liegen in alten Fabrikgebäuden. Aber damit erschöpfen sich auch schon fast ihre Gemeinsamkeiten.

Die Idee für die Schule, die David Amirdschanjan besucht, entstand auf einem Balkon in Dubai. Béa Beste, Beraterin bei Boston Consulting, und Alexander Olek, Biotechunternehmer, langweilten sich bei einer Bauchtanzdarbietung, gingen raus und plauderten. Sie kamen schnell auf ein Thema: ihre Unzufriedenheit mit Deutschlands Schulen. Im Jahr darauf gründeten sie Phorms, eine Kette von Privatschulen. Wahlspruch: Besser lernen und Gewinn machen.

Zur Bekanntschaft, die sich als prägend für Emils Schule erwies, kam es im Keller der Naunynritze, einem Übungsraum für Kreuzberger Bands. Nanke Meems, Sängerin bei den Inserts, suchte Arbeit. Attilerie, Sängerin bei Payback 5, berichtete ihr von der Freien Schule Kreuzberg, an der sie selbst seit kurzem unterrichtete. Attilerie ist mittlerweile Schulleiterin. Nur formal, denn an der Freien Schule Kreuzberg gibt es keine Hierarchien. Meems macht Mathematik und Biologie. Sie verdient 1300 Euro, mehr ist nicht drin bei einem Schulgeld von 90 Euro, einem der niedrigsten Berlins.

151 Privatschulen gibt es in Berlin, seit "Pisa" haben sich viele Eltern von den staatlichen abgewandt

151 Privatschulen gibt es mittlerweile in der Stadt. Seit dem Pisa-Schock haben sich viele Eltern von den staatlichen Schulen abgewandt. „Lernfabriken“ nennt sie der Philosoph Richard David Precht in seinem neuen Buch: Noch nie sei das, was in der Schule gelernt, und das, was im Leben gebraucht werde, so weit auseinandergefallen, behauptet er.

Doch auch unter denjenigen, die die Berliner Schulmisere beklagen, scheiden sich die Geister. Soll Schule Kinder vorbereiten auf den globalen Wettbewerb, oder soll sie sie groß werden lassen ohne Leistungsdruck? Zugespitzt formuliert: Sollen es die Kinder später einmal besser haben oder heute besonders gut? Oder schließt sich beides etwa gar nicht aus?

Um die richtige Lernmethode schwelt eine der letzten ideologischen Debatten. Die Frage ist: Zwang oder Freiheit? Tigermutter versus Summerhill. Wie lernen Kinder das nötige Durchhaltevermögen, das für jede qualifizierte Tätigkeit nötig ist? Indem man es ihnen abverlangt? Oder indem man ihnen gar nichts abverlangt?

Vor vier Jahren schrieb die Yale-Professorin Amy Chua ein Plädoyer für die chinesische Erziehung. Darin heißt es sinngemäß, dass Mutterliebe bedeute, das Kind mit eiserner Hand dazu zu bringen, sein Bestes zu geben. Ihr Beweis: Eine ihrer Töchter spielte 14-jährig Piano in der Carnegie-Hall.

Das meistverkaufte Buch über Erziehung und Schule spricht sich für die Selbstbestimmung von Kindern aus: „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ von A. S. Neill aus den 60er Jahren. Neill berichtet darin über seine Erfahrungen als Gründer der Summerhill-Schule in England, in der sich die Schüler mit dem beschäftigen dürfen, was sie wollen. Auch Neills Buch ist voller Erfolgsgeschichten ehemaliger Schüler, die angesehene Wissenschaftler, Ärzte, Künstler wurden.

Manche verzichten auf Noten und Sitzenbleiben, andere haben von Anfang an Schuluniformen

Gleich mehrere der neuen Schulen lehnen sich an Neill und andere reformpädagogische Konzepte an. Zwölf sogenannte Freie Alternativschulen gibt es mittlerweile in Berlin. Die Freie Schule Kreuzberg in der Zeughofstraße zählt dazu. Sie verzichtet auf Noten. Keiner bleibt sitzen.

Bei Phorms in der Ackerstraße gibt es dagegen Noten von der dritten Klasse an, Schuluniformen, Englisch als Unterrichtssprache. Der erste Abiturjahrgang des Phorms-Gymnasiums schnitt von allen Berliner Schulen am zweitbesten ab. Schulgründerin Beste machte außerdem den Unternehmergeist, den sie ins Bildungswesen trug, zum Lernziel für die Kinder.

Emil Peuschel und David Amirdschanjan wachsen, konzeptionell gesehen, in verschiedenen Welten auf. Wie prägt sie das? Wie lernen Kinder am besten, und was ist der Preis?

Donnerstag, zwölf Uhr, an der Freien Schule Kreuzberg. Emil dreht die Blätter einer Topfpflanze um, die auf einer Fensterbank steht, er sucht nach Schildläusen. „Emil ist unser Tierforscher“, sagt ein Mädchen. Ameisen sind seine Lieblingstiere. Spätestens seit er zu Weihnachten eine Königin und fünf Arbeiterinnen für 99 Cent aus dem Antstore bekam. Nach seiner Lieblingsbeschäftigung gefragt, sagt er: „Fachbücher über Ameisen lesen.“ Sein späterer Berufswunsch sei „Myrmekologe“, also Ameisenforscher.

Emil ist ein ernster, zurückhaltender Junge mit blonden, langen Haaren, der in seiner spezialistischen Zielstrebigkeit ein Musterbeispiel ist für das, was A. S. Neill im Sinn hatte. Ihm gefalle an seiner Schule besonders, sagt Emil, dass man die Lehrer nicht siezen müsse, mal zu spät kommen dürfe und nicht zu Sachen gezwungen werde.

Aus der Not schicken Eltern ihre Kinder auf Privatschulen - nicht aus Ehrgeiz

Kurz darauf, eine Köchin schält Gemüse, Kinder spielen Fangen, Emil streichelt einen Hund. Er gehört der Betreiberin der Kiezlokale Bull-Bar und Cortina Bob. Alle zwei Wochen kommt sie in die Schule, ehrenamtlich, „weil es schön ist für den Hund“, wie sie sagt. Hundevorlesen heißt ihre Stunde für die Schulanfänger. Den Kindern sei es oft peinlich, laut vorzulesen, erklärt sie. Vor dem Hund haben sie diese Hemmungen nicht.

Der Hund, mit dem sich David beschäftigt, ist ein Deutscher Schäferhund. Für ihn ein virtuelles Tier. David und seine 14 Mitschüler sollen im Internet ein Referat zur Hunderasse ihrer Wahl recherchieren. Es geht um selbstständiges Arbeiten und Präsentation. „Dog-Project“ heißt die Unterrichtseinheit.

Berufsziel Ameisenforscher: Emil Peuschel findet gut, dass er in der Freien Schule Kreuzberg zu nichts gezwungen werde.
Berufsziel Ameisenforscher: Emil Peuschel findet gut, dass er in der Freien Schule Kreuzberg zu nichts gezwungen werde.

© Mike Wolff

David ist ein lebendiger Junge, ein wenig unordentlich. Er sagt, dass sich sein Notenschnitt von 1,6 auf 2,1 verschlechtert habe. Er braucht mindestens 2,7, um im nächsten Jahr auf das Gymnasium von Phorms zu wechseln. David will an der Privatschule bleiben. „An ihre Macken gewöhnt man sich. Schon okay“, sagt er. Der Hof sei „öde“.

Dafür gibt es für die 550 Kindergartenkinder und Schüler drei Turnhallen, eine Theaterbühne und mit interaktiven Smartboards ausgestattete Klassenräume, deren Geräumigkeit für David mitunter von Nachteil ist. Er sitzt an einem Einzeltisch und kann sich mit seinem Freund nur in Zeichensprache verständigen. „Wer hat am Wochenende an seinem Dog-Project weitergearbeitet?“, fragt die Lehrerin. Alle Kinder melden sich.

Die Lehrer sind jung und engagiert

Höchstens zehn Minuten habe David daran gesessen, sagt seine Mutter. Er lerne schnell, mitunter nachlässig. Sabine Amirdschanjan hat ihre drei Kinder bei Phorms. Ihr ältester Sohn war erst an einer staatlichen Schule. Kaum eingeschult, wurde ein Elternabend zum Thema Gewalt auf dem Schulhof einberufen. Aus Not schicken viele Eltern ihre Kinder auf eine Privatschule, nicht aus Ehrgeiz. Außerdem, sagt Amirdschanjan, finde bei Phorms der Unterricht immer statt. Für sie als alleinerziehende Mutter, die arbeitet, sei das entscheidend. Ihr gefalle an der Schule, dass viele Fächer auf Englisch von Muttersprachlern unterrichtet würden. „Das sind meist junge, engagierte Lehrer. Ich habe noch keinen erlebt, der keinen Bock mehr hat. Der Nachteil ist, dass die Lehrer oft nicht lange bleiben.“

Davids Klassenlehrer kommt aus Michigan. Zuvor unterrichtete er Schwererziehbare. David findet ihn streng. Der Lehrer seinerseits hat den Eindruck, dass es bei Phorms nicht so streng zugehe, verglichen mit den Gepflogenheiten in seinem alten Schulbezirk. Zwar vergibt er „Effort Grades“ nach jeder Stunde – Fleißnoten. „Um den Schülern zu helfen, sich zu konzentrieren“, sagt er. Sie tauchen aber im offiziellen Zeugnis nicht auf. Letztlich, sagt er, wechseln bei Phorms über 90 Prozent der Kinder ohnehin aufs Gymnasium.

Schon allein der teure Apparat von Phorms verhindert allzu hohe Prüfungshürden. Die Privatschulkette, die vor drei Jahren finanzielle Probleme hatte, könnte es sich gar nicht leisten, Schüler rigoros auszusieben. Aus den Städten Hannover und Köln zog sich die Kette zurück. Die Schulgründer gingen. Das neue Management ist leiser.

"Mit Eigenverantwortung kann man viel erreichen"

Das Ziel, unternehmerisches Denken zu vermitteln, interpretiert die Grundschulrektorin in Mitte, Stephanie Jansen, mittlerweile so: „Zu zeigen, dass die Dinge ihren Wert haben.“ Sie verwahrt sich auch gegen das Wort Eliteschule. Sie selbst besuchte früher eine Waldorfschule und hat nach dem Studium eine Schule dieses Typs aufgebaut. Sie hegt noch immer Sympathien für reformpädagogische Ideen. „Mit Eigenverantwortung kann man viel erreichen“, sagt sie.

Auch an ihrer Grundschule bleibt fast niemand sitzen. Jansen erinnert sich an zwei, drei Fälle, in denen ein noch sehr unreifes Kind nach langen Gesprächen mit den Eltern zurückgestellt wurde. Bei einem Schulgeld, das je nach Einkommen bis 670 Euro im Monat beträgt, sind die Ansprüche der Eltern an die Schule größer als die Ansprüche der Schule an die Kinder.

„David leidet wirklich nicht sehr unter Leistungsdruck“, sagt seine Mutter. Aber lernt man, wie versprochen, bei Phorms wirklich besser als beispielsweise an der Freien Schule Kreuzberg?

Dort gibt es keine smarten Tafeln, dafür Zelte, Lesehöhlen, denn gerade ist Projektwoche zum Thema „Ich erzähle dir eine Geschichte“. Die Höhle eines Jungen ist kaputt. Emil glaubt, dass das „irgendjemand extra gemacht“ hat. Ein anderer sagt, dass es „sicher die Mädchen“ gewesen seien. Konflikte auszutragen und zu lösen ist an Freien Alternativschulen Lernziel. In Vollversammlungen entscheiden die Kinder über Regeln an der Schule. Ihre Interessen, nicht der Berliner Rahmenlehrplan, bestimmen das Curriculum. Und statt eines Zeugnisses bekommen die Schüler Briefe mit nach Hause, die auch Vorschläge enthalten, was sie besser machen können. „Bei mir stand eigentlich immer nur Gutes drin“, sagt Emil Peuschel.

Die ganz große Freiheit ist hier nicht zu finden

Doch die ganz große Freiheit, wie A. S. Neill sie beschrieb, ist in Kreuzberg nicht mehr zu sehen. Was auch an dem Zusammentreffen von Attilerie, Rufname Atti, und Nanke Meems liegt.

Atti ist Kunstpädagogin, Meems Biologin, die lange für das Institut für Gewässerökologie arbeitete und sich als „sehr strukturierte Person“ beschreibt. Die Selbstbestimmung, die sie an der Kreuzberger Schule anfangs antraf, war ihr zu chaotisch. Nun gibt es feste Lernzeiten mit verschiedenen Angeboten, von denen sich jedes Kind eines aussuchen muss. In Deutsch steht Comicschreiben, in Lexika lesen oder Handschriftüben zur Auswahl. Meems nimmt es ernst, die Schüler auf weiterführende Schulen vorzubereiten.

„Emil wäre für jeden Schultyp ein super Schüler“, sagt sie. „Er kann gut selbstständig arbeiten, er hat viel Wissen und sehr komplexe Gedanken.“

Emils Vater sagt, dass er für den Sohn „eine möglichst lässige Schule“ gesucht habe. Er selbst sei in der DDR auf Leistung getrimmt worden. Man müsse „seinem Kind vertrauen“, wenn man es an eine Schule jenseits des tradierten Systems schicke. Die Lehrer an der Freien Schule Kreuzberg ließen sich viel einfallen, um die Kinder zu begeistern. Außerdem ist der Personalschlüssel hoch: 8 Lehrer und Erzieher für 31 Kinder.

Lernzeit Mathematik. Meems multipliziert an einer Tafel Brüche miteinander. Emil hat seinen Kopf auf der Bank liegen. „Ich muss mit ihm wissenschaftliches Arbeiten nachspielen“, sagt Meems, „pures Rechnen ist ihm zu langweilig.“ Bei Phorms in Mitte hängt David in ähnlicher Haltung über seinem Tisch. Auch er mag Mathematik nicht besonders. Sein Lehrer macht David und seine Mitschüler zu Unternehmern eines Vergnügungsparks und lässt sie als Rechenübung für 28 000 Dollar Fahrgeschäfte und Imbisse kaufen.

Zwei engagierte Lehrer, die einem trockenen Stoff zu trotzen versuchen. Schule bleibt mitunter Schule, ob sie eine Vollversammlung hat oder ein Management. Der größte Unterschied der beiden Privatschulen liegt in ihrem Geist. Bei Phorms sagen sie Vision.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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