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Zusammen stark. Die Mutter (links) und die Schwester des getöteten Jonny K. wirkten angespannt, als sie im Gerichtssaal auf das Urteil warteten.

© dpa

Urteil zum Fall Jonny K.: Täter verweigern Verantwortung

Ein Motiv? Konnte das Gericht auch nach wochenlangem Prozess nicht erkennen. Nur eine Mischung aus Dummheit, Arroganz und Aggressivität. Sie kostete Jonny K. auf dem Alexanderplatz das Leben. Die jungen Männer äußern alle Bedauern. Aber Verantwortung übernimmt keiner.

Völlige Sinnlosigkeit. Das ist es, was von der Begegnung zweier Jungmänner-Gruppen morgens um vier auf dem Alexanderplatz bleibt. Sechs Mann stark die eine Gruppe, vier Mann stark die andere. Zur zweiten Gruppe gehört Jonny K. aus Spandau, zur ersten Onur U., inzwischen 20. Keine sechzig Sekunden, nachdem beide aneinander geraten waren, liegt Jonny K. bewusstlos und schwer verletzt auf dem Boden in der Nähe eines Cafés. Stunden später stirbt er auf einer Intensivstation an Hirnblutungen. Zehn Monate später wird Onur U., Anführer der Sechser-Gruppe, im Berliner Kriminalgericht zu einer Haftstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, die fünf mitangeklagten jungen Männer bekommen Strafen von zwei Jahren und drei Monaten beziehungsweise von zwei Jahren und acht Monaten.

Kein Zweifel an der Hauptschuld von Onur U.

Onur U. macht nicht den Eindruck, als treffe ihn der Schuldspruch. Entspannt zurückgelehnt sitzt er während der dreiviertelstündigen Urteilsbegründung im großen Saal 700. Er trägt ein weißes Hemd mit offenen Kragen und eine auffällige weiße Armbanduhr. Die modische Frisur, der kurz rasierte dichte Bart – ein ganz normaler junger Mann mit Migrationshintergrund. Dass er mal richtig Boxen gelernt hat, ist ihm nicht unbedingt anzusehen. Dass er einer Auseinandersetzung nicht aus dem Weg geht, lassen seine Körpersprache und seine selbstbewussten Blicke in die Menge aber ahnen. Immer mal wieder grinst er vor sich hin, oft sucht er mit den Augen Kontakt zu seinen Leuten im Publikum. Zweimal in dieser Dreiviertelstunde spricht der Richter von der „Mischung aus Dummheit, Arroganz, Unverschämtheit und Aggressivität“, die Onur U. in dieser Nacht des 14. Oktober dazu brachte, Streit mit der Gruppe um Jonny K. zu suchen. Auch diese Bemerkungen scheinen U. nicht wirklich zu erreichen. Dabei hat der Vorsitzende keinen Zweifel daran gelassen, dass er Onur U. für den Hauptschuldigen hält: Ohne seine Provokation wäre Jonny K. wohl noch am Leben, die beiden Gruppen wären achtlos aneinander vorbei gekommen.

Onur U. war offenbar auf Ärger aus, als er auf Jonny K. traf

Doch offenbar war Onur U. auf Streit und Ärger aus. Er hatte mit den fünf anderen im „Cancun“ getrunken und gefeiert. Die Truppe – drei von ihnen sind verwandt, die übrigen untereinander eher bekannt als befreundet – kam rein zufällig an Jonny K. und dessen Freund Gerhardt C. vorbei. Der hatte den völlig betrunkenen dritten Kumpel huckepack getragen und wollte ihn gerade auf den Stuhl eines Cafés setzen, um Pause zu machen. An diesem Stuhl, so das Gericht, habe Onur U. herumgewackelt oder gezerrt. Als Jonny K. dies sah, ein paar Schritte näher kam und eine Bemerkung machte wie „Ey, lasst den, der ist betrunken“, versetzte ihm Onur U. ohne Anlass, ohne Warnung einen „wuchtigen Faustschlag“, so der Richter, mitten ins Gesicht.

Dieser Faustschlag, von dem niemand weiß, ob er womöglich tödlich war, begründet der Kammer zufolge den Schuldspruch gegen Onur U. Er war der Anstifter dieser tödlichen Schlägerei, auch darauf verwies Richter Helmut Schweckendieck mehrmals.

Eine Gruppe wurden sie vermutlich erst in dem Moment, als Onur U. am Stuhl zerrte und gezielt provozierte. Er kannte nicht alle der jungen Männer, die so schnell zu Mittätern wurden. Bei Bilal K. ist es ähnlich. Später aber sollen sie, das ergibt sich aus Zeugenaussagen, wie eine eingeschworene Clique von Schlägern in der U-Bahn gesessen, triumphiert, sich gelobt haben: „Denen haben wir es gegeben!“ Sie alle sind in Berlin geboren und aufgewachsen, haben türkische und griechische Pässe, Onur U. auch einen deutschen: Sechs junge Männer, die noch bei ihren Eltern leben, sich gern gestylt in Bars amüsieren, dafür aber überwiegend auf Taschengeld angewiesen sind. Sie waren in der Schule angeblich nicht schlecht, danach aber fielen ihre Bemühungen um Beruf und Job eher gering aus.

Eine Jungmännergruppe aus fünf eher harmlosen Typen und einem bekannten Schläger. Vier von ihnen sagen im Lauf des Verfahrens, sie könnten sich selbst nicht erklären, warum sie mitgemacht haben. Alle äußern Bedauern. Aber keiner übernimmt Verantwortung für den Tod des Jungen, den seine Freunde als ausgesprochen friedliebend beschreiben. Drei geben einen Tritt oder Schlag zu, als Jonny K. noch gestanden habe.

Fünf harmlose Typen und ein bekannter Schläger

Ohne den Angriff Onur U.’s hätten die fünf anderen wohl gar nicht mitgemacht mit Tritten gegen den schon am Boden liegenden Jonny K. sowie mit Schlägen gegen dessen Freund Gerhardt, der ihm helfen wollte und einen Jochbeinbruch, einen Bruch der Augenhöhle und eines Handwurzelknochens erlitt.

Das würde jedenfalls zum Vorleben der jungen Männer passen, nur Onur U. ist wegen Körperverletzung vorbestraft. Die fünf anderen machten den Eindruck normaler junger Männer – wenn man unter „normal“ versteht, dass nur einer von ihnen eine Ausbildung zu Ende gebracht und ein weiterer immerhin eine Ausbildung angefangen hat, obwohl sie alle die Schule schon längere Zeit hinter sich haben. Wie normal es ist, mit Anfang zwanzig aus dem Chillen und Abhängen eine Lebensbeschäftigung zu machen und wie normal es ist, dass dreien der zur Begutachtung Herangezogenen eine „Reifeverzögerungen“ attestiert wird, sei dahin gestellt. Die Kammer hält jedenfalls bei allen eine Gefängnisstrafe für notwendig, um sie zum Nachdenken über das zu bringen, was sie angerichtet haben. Schwer getroffen wirkte am Donnerstagmittag keiner der fünf Mitschuldigen. Allenfalls Bilal K., der älteste der Gruppe, ein stets etwas bleicher, an einer Krankheit leidender Mann von Mitte zwanzig, sah aus, als ahne er etwas von der Bedeutung der Strafe.

Zwei Großgruppen stehen sich gegenüber

Dass gerade wegen der vollständigen Sinnlosigkeit dieser Schlägerei Strafen notwendig sein würden, hatte Oberstaatsanwalt Michael von Hagen in seinen Plädoyer am Montag gesagt. Der groß gewachsene Mann leitet die für Kapitalverbrechen zuständige Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft. Es heißt, er sei einer, der sich mit Kollegen berät. Mit seiner ruhigen Art hat er dazu beigetragen, das Verfahren rasch wieder aufzunehmen, als es vor Wochen nach dem Krach um die Bemerkungen eines Schöffen unterbrochen werden musste. Ankläger Hagen hält Onur U. für den Haupttäter, den „Verursacher“ dieser tödlichen Körperverletzung, auch wenn man, wie er sagte, „nicht jedes Detail lückenlos aufklären“ konnte. Mit dem Schuldspruch für alle sechs zeigte er sich zufrieden. Die Strafen seien nicht weit weg von dem, was er gefordert habe, sagte er.

Eine seltsame Spannung ist am Ende des Verfahrens im Gericht und auf dem Fußweg davor zu spüren. Selten haben so viele Justizwachtmeister der trainierteren Sorte einen Gerichtssaal gesichert, einige tragen sogar schusssichere Westen. Selten ist der breite Fußweg vor dem Kriminalgericht so voller Polizisten, die konzentriert zwei Gruppen aus je zwei oder drei Dutzend Menschen im Blick behalten. Auf der einen Seite stehen die Angehörigen und Freunde von Jonny K. und von dessen Schwester Tina. Sie hat, wie auch ihr Freund Gerhardt C., den Tod von Jonny zum Anlass genommen, eine Stiftung gegen Gewalt zu gründen. Sie hat vor Monaten ein großes Gedenkkonzert mitorganisiert. Sie spricht mit Jugendlichen über Gewaltlosigkeit.

Die wütenden Blicke, die sie aus der anderen Großgruppe auf dem Fußweg treffen, die sich aus Freunden und Bekannten der Angeklagten rekrutiert, scheinen Tina K. nicht zu irritieren. An jedem einzelnen Verhandlungstag folgte sie dem Prozess. Nur Tage nach dem Verbrechen an ihrem Bruder war sie erstmals an die Öffentlichkeit gegangen. Still und konzentriert saß die 28-jährige Frau als Nebenklägerin im Saal. „Ich erwarte einfach nur Menschlichkeit und wirklich den Anstand, dass irgendwann irgendeiner von denen aufsteht und mit der Wahrheit herausrückt“, sagte sie einmal. Aber sie habe „nur Leere“ in den Augen der Angeklagten gesehen. Sie hoffe, dass die Schuldigen die Verantwortung für den Tod ihres Bruders übernehmen. Gehört hat sie solche Worte nicht. Erst am Tag des Urteils begleitet ihre Mutter Tina K.

Jonny K.s "kleiner Bruder"

Nach dem Schuldspruch sagt sie: „Ich bin froh, dass sie alle Haftstrafen bekommen haben, ich hoffe, dass sie daraus lernen.“ Sie bedauert, dass nach wie vor unklar sei, wer was getan habe. „Ich hoffe, dass sie es irgendwann sagen.“ Mit dem Urteil sei sie zufrieden. „Aber eine gerechte Strafe gibt es nicht. Sie sind irgendwann wieder frei, mein Bruder wird nicht wiederkommen.“ Sie wolle mit der Stiftung auf jeden Fall weitermachen und gegen sinnlose Gewalt mobilisieren. Woher sie die Kraft nimmt? „Die kommt von meinem Bruder.“ Neben ihr steht Gerhardt C., das überlebende Opfer der Schlägerei und der Lebensgefährte von Tina K.. Für Jonny war er wohl so etwas wie ein kleiner Bruder. Er trägt ein weißes T-Shirt mit dem skizzierten Gesicht von Jonny K. und der Aufschrift „I am Jonny“. In ihm scheint diese Nacht, die seinem Freund den Tod brachte, noch immer anzudauern. Nicht einmal hat er den Blick gehoben und sich angesehen, wie die nun schuldig Gesprochenen auf das Urteil reagieren. Seine Augen wirken traurig, sagen will er nichts.

Als sich die Menschen um Tina K. draußen vor dem Gericht in Bewegung setzen, stellen sich ihnen zwei junge Männer aus der anderen Gruppe in den Weg und gucken bemüht finster. Sie gehen erst zur Seite, als ein Polizist ein paar deutliche Worte an sie richtet.

Trauriger Höhepunkt einer Serie von Gewaltexzessen in Berlin

Ob das Urteil rechtskräftig wird, ist nicht sicher. Ein Verteidiger hat schon angekündigt, er werde Revision beantragen. Bis auf weiteres wird nur Onur U. im Gefängnis bleiben. Die anderen fünf haben Haftverschonung. Das Strafmaß wird heftig debattiert werden – zumal der Tod des Jonny K. trotz aller gegenläufigen Entwicklungen in der Kriminalität in eine traurige Reihe von Gewaltexzessen in Berlin gehört. Im Februar 2011 prügelten vier Jugendliche zwei Handwerker in Lichtenberg fast tot – sie bekamen Haftstrafen von vier bis sechs Jahren. „Der U-Bahn-Schläger“ Torben P. trat nur Monate später einen anderen jungen Mann auf dem U-Bahnhof Friedrichstraße gegen den Kopf, gab sich im Prozess reuig und wurde wegen versuchten Totschlags zu zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt, die er im offenen Vollzug verbüßen sollte. Das Verfahren lief noch, als der 23 Jahre alte Giuseppe M. auf dem Kaiserdamm in Charlottenburg ums Leben kam. Er war vor einem jungen Mann geflohen, der ihn in der U-Bahn provoziert und dann geschlagen hatte. Ali T. wurde wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Starke Motive trieben die Schläger nie, bloß Dummheit, Unverschämtheit und Aggressivität.

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