zum Hauptinhalt
Generationskonflikt: Eine Szene aus "Das Erbe".

© Rutu Modan/Carlsen

Interview mit Comiczeichnerin Rutu Modan: „Ich liebe Konflikte“

Rutu Modan ist mit ihrem aktuellen Buch „Das Erbe“ für den Max-und-Moritz-Preis nominiert. Dem Tagesspiegel erzählte sie von dessen Entstehung.

Rutu Modan (47) hat sich mit Büchern wie „Blutspuren“ und Kurzgeschichten, die unter anderem in der „New York Times“ veröffentlicht wurden, als eine der wichtigsten zeitgenössischen Comicerzählerinnen etabliert. Jetzt ist ihr im vergangenen Jahr erschienenes Buch „Das Erbe“ (Carlsen, 222 Seiten, 24,90 Euro) für den Max-und-Moritz-Preis nominiert worden, der als wichtigste deutschsprachige Comic-Auszeichnung gilt. Am Freitag wird er beim Comic-Salon Erlangen verliehen - hier gibt es eine Liste der anderen 24 Nominierten.

Der Tagesspiegel hat Modan vergangenes Jahr zum Interview getroffen, aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir es hier erneut.

Tagesspiegel: „Das Erbe“ ist eine fiktive Geschichte, aber beim Lesen hat man den Eindruck, sie wurde von realen Personen und Ereignissen inspiriert. Wie kamen Sie zu dieser Geschichte – oder wie kam die Geschichte zu Ihnen?

Rutu Modan: In diesem Fall kam die Geschichte eher zu mir. Ich hatte eine Zeitlang einen illustrierten Blog auf den Onlineseiten der New York Times. Dafür musste ich ständig neue Geschichten liefern. Also habe ich Ereignisse aus meiner eigenen Familiengeschichte verarbeitet. Das waren richtig autobiografische Geschichten, was ich nie zuvor gemacht hatte. Eigentlich hatten mich fiktive Geschichten immer mehr interessiert. Aber jetzt schrieb ich jeden Monat Episoden aus dem Leben von Familienmitgliedern auf. Zwei Geschichten handelten von meinen Großmüttern, die schon lange nicht mehr leben. Die stammten beide aus Warschau und kamen 1934 beziehungsweise 1940 nach Israel. Mein Vater wurde noch in Warschau geboren, seine Familie verließ Polen erst, als die Deutschen es schon besetzt hatten. Ich schrieb also für die „New York Times“ über meine Großmütter, obwohl ich ihnen nicht sehr nahe stand. Vor allem die Mutter meines Vaters war ein sehr schwieriger Mensch. Aber ich fand es sehr interessant, aus ihrer Perspektive zu schreiben. Und beide Geschichten über meine Großmütter bekamen sehr viele freundliche, warmherzige Kommentare im Internet. Plötzlich schien jeder eine polnisch-jüdische Großmutter zu haben.

Und daraus entstand die Idee für Ihr aktuelles Buch?

Ja, ich war auf der Suche nach einer neuen Idee für mein nächstes Buch. Das Thema von einstigen Besitztümern in Polen, deren Besitzer erst von den Nazis verjagt und dann später von den Kommunisten noch einmal enteignet wurden, ist ein sehr virulentes Thema in Israel, über das vor allem die alten Leute viel sprechen. Dazu kommt, dass Polen von vielen älteren Juden lange boykottiert wurde, unter anderem weil hier die meisten Konzentrationslager der Nationalsozialisten standen. Meine Großmutter sprach von Polen meist nur als „Das Land der Toten“. Meine beiden Großmütter wollten nie dort hin zurückkehren. Gleichzeitig dachten sie schon auch mit nostalgischen Gefühlen daran zurück und hatten Erinnerungen an glückliche Zeiten in Polen, die nicht immer ganz der Realität entsprachen. Und so wuchs in mir die Idee, dass ich dieses Land, das ich nie zuvor besucht habe mal kennen lernen möchte. Ich hatte anfangs nicht mal ein Bild in meinem Kopf, wie es dort wohl aussehen mag. Alles was ich über Polen wusste, waren Kriegsgeschichten. Also entwickelte ich eine Erzählung, die zwar von der Geschichte handelt, aber eher indirekt darauf Bezug nimmt. Ich wollte nicht über den Holocaust schreiben. Das ist mir zu direkt, und es ist oft genug gemacht worden. „Maus“ ist ein Meisterwerk, was könnte ich dem noch hinzufügen? Ich wollte lieber erzählen, was diese Geschichte für Menschen heute noch bedeutet.

„Das Erbe“ steckt voller Details, die offenbar akribisch recherchiert wurden. Wie sind Sie vorgegangen?

Als erstes las ich im Lexikon den Artikel über Polen, um eine Idee zu bekommen, was für ein Land das überhaupt ist. Ich wollte mir mein eigenes Bild machen und Polen nicht nur als großen jüdischen Friedhof sehen. Ich habe eine Freundin in England, die aus Polen stammte – die habe ich zu ihrer Kindheit und ihrem Leben in Polen befragt. Sie erzählte mir zum Beispiel, dass die Polen große Angst haben, dass die Deutschen und die Juden kommen und ihnen ihre einst enteigneten Häuser und Wohnungen wegnehmen. Das bestärkte mich darin, dass dies mein Thema werden sollte: Der Umgang mit dem Besitz, der einstmals anderen gehörte. Ich liebe Konflikte. Eine gute, dramatische Geschichte braucht einen guten Konflikt. Und dann fügten sich die anderen Elemente nach und nach zusammen. Jemand erzählte mir von dem großen jüdischen Friedhof in Warschau. Ich liebe Friedhöfe – und der passte einfach wunderbar zu meiner Handlung, also nahm ich ihn als Ort in meine Geschichte mit auf und besuchte ihn, als ich endlich nach Warschau reiste.

Verwirrendes Spiel mit der Vergangenheit: In Warschau wird die Geschichte lebendig.
Verwirrendes Spiel mit der Vergangenheit: In Warschau wird die Geschichte lebendig.

© Carlsen

Wann war das?

2009. Ich verbrachte insgesamt vier Wochen dort und arrangierte zahlreiche Treffen mit alten und jungen Polen, um mehr über deren Alltag zu erfahren. Ich legte meine Reise so, dass ich dort zu Allerheiligen sein würde, dem Tag der Toten – denn mir war klar, dass der als Rahmen für einen Teil meiner Handlung gut passen würde. Ich unternahm lange Touren durch die Stadt, aber war dabei weniger an den üblichen Gedenkorten an den Holocaust und das Ghetto interessiert. Ich wollte eine Idee bekommen, wie es heute dort aussieht, denn mein Buch sollte ja in der Gegenwart spielen. Und in Israel habe ich dann auch noch mal viele Menschen interviewt, die einen Bezug zu Polen haben, und zahlreiche Bücher zum Thema gelesen. Und irgendwie entwickelte sich daraus dann die Geschichte.

Wenn Sie an einem Buch wie diesem arbeiten, kommen da erst die Handlung und der Text, oder sind manchmal die Bilder zuerst da?

Meistens habe ich ein fertiges Drehbuch. Aber in diesem Fall hatte ich bestimmte Bilder im Kopf, die ich in die Geschichte einbauen wollte, wie die von der Versammlung auf dem Friedhof zu Allerheiligen, die man auch auf dem Buchcover sieht. Auch andere Orte, die in meinem Buch eine wichtige Rolle spielen, hatte ich zuerst als Bild im Kopf, bevor ich sie dann in den Handlungsverlauf eingefügt habe, so das „Fotoplastikon“, in dem historische Stereoskopie-Fotos präsentiert werden, oder ein Restaurant, das in einer umgebauten Wohnung betrieben wird. Und auch bei den Figuren habe ich einige auch aus visuellen Überlegungen heraus eingebaut, so einen polnischen Fremdenführer und Comiczeichner, der quasi auch meine eigene Rolle als Zeichnerin reflektiert.

Comic-Meisterin: Rutu Modan, aufgenommen vor kurzem auf dem Toronto Comic Arts Festival.
Comic-Meisterin: Rutu Modan, aufgenommen vor kurzem auf dem Toronto Comic Arts Festival.

© Lars von Törne

Am Anfang des Buches steht ein Zitat Ihrer Mutter Michaela Modan: „Der Familie muss man nicht die ganze Wahrheit sagen, und das ist noch lange keine Lüge.“ Wieweit ist „Das Erbe“ auch die Geschichte eines Familiengeheimnisses Ihrer eigenen Familie?

Wenn es ein Familiengeheimnis ist, kann ich darüber nicht sprechen. Das ist ja das Großartige an fiktiven Erzählungen: Sie sind fiktiv, aber Du kannst unter anderen Vorzeichen und unter anderen Namen viele Dinge aus der Realität dort einbauen. Du kannst von ihnen erzählen, ohne Geheimnisse zu verraten. Albert Camus hat mal gesagt: „Fiktion ist die Lüge, durch die wir die Wahrheit erzählen können.“ So sehe ich das auch.

Ihr Buch lebt besonders von den eigensinnigen und lebendigen Hauptfiguren, vor allem von der sturen, alten Dame, die im Mittelpunkt der Handlung steht…

Ja, das ist eine Kombination meiner beiden Großmütter. Wie sie sich verhält, ihren Dickschädel durchsetzt – so waren die.

Und ihre Enkelin, die mit ihr nach Polen reist und quasi die Brücke in die Gegenwart darstellt..?

Die hat schon Elemente von mir, aber sie ist in vielerlei Hinsicht auch sehr anders als ich. Aber eigentlich kann ich mich in allen Personen in dem Buch ein bisschen wieder finden.

Am Ende des Buches haben Sie eine Liste von Mitwirkenden, fast wie bei einem Kinofilm, auf der sich auch manch bekannter israelischer Künstler findet – heißt das, die haben für Sie bestimmte Szenen gespielt, die Sie dann gezeichnet haben?

Ja, das ist eine Technik, die ich bereits bei meinem vorigen Buch „Blutspuren“ benutzt habe. Für mich ist Körpersprache im Comic sehr wichtig. Jeder Person hat ihre eigenen körperlichen Ausdrucksformen. Also beschloss ich vor einiger Zeit, Models zu nutzen, denn ich habe selbst nur einen Körper, der nicht sehr viele Variationen erlaubt. Bei „Blutspuren“ waren das noch hauptsächlich Freunde, die mir dabei halfen. Aber für das das neue Buch habe ich zusätzlich israelische Profi-Schauspieler engagiert, die einfach noch ausdrucksstärker agieren. Die Rolle der alten Dame hat zum Beispiel eine alte Schauspielerin gespielt, die ich seit langem sehr mag. Dank dieser Schauspieler ist die Geschichte viel besser geworden, als wenn ich sie alleine am Zeichentisch entwickelt hätte. Denn die haben mich durch ihr oft spontanes Agieren auf bestimmte Szenen, Gesichtsausdrücke und Gesten gebracht, die mir alleine nicht eingefallen wären.

Das heißt, Sie haben da richtig wie bei einem Filmprojekt gearbeitet?

Ja, so ähnlich. Am Anfang entwickele ich ein Storyboard, auf dem die groben Handlungsverläufe skizziert sind. Das ist die Grundlage für die Fotosessions. Dort haben wir dann alle nötigen Utensilien, verschieden Kleidungsstücke und so weiter. Wir machen professionelle Aufnahmen aus allen möglichen Perspektiven, und das ist dann die Grundlage für viele meiner Zeichnungen. Aufgenommen wurden die Szenen meistens in meiner Wohnung in Tel Aviv.

Vielleicht hat Ihr Buch daher ein bisschen die Anmutung eines gezeichneten Theaterstücks..?

Ja, mein Blickwinkel bei den Fotoaufnahmen und auch beim Zeichnen ist ein bisschen als schaute ich auf eine Bühne.

Eine der Besonderheiten an Ihrer Erzählung ist, mit welcher Leichtigkeit Sie schwere, emotional aufgeladene historische Themen mit Witz und Ironie kombinieren, sodass man beim Lesen gleichermaßen ins Grübeln kommt und zum Lachen gebracht wird…

Mir ist der Humor sehr wichtig. Als Autorin wie auch als Leserin. Das ist einfach meine Sicht der Dinge: Alles Tragische hat auch eine komische Seite. Und manchmal provoziere ich auch gerne einfach, indem ich ernste Themen mit witzigen kontrastiere. Aber nicht, um es leichter zu machen. Ich denke, der Humor kann die tragischen Elemente noch intensiver wirken lassen.

Totengedenken. Eine Szene aus Rutu Modans neuem Buch.
Totengedenken. Eine Szene aus Rutu Modans neuem Buch.

© Carlsen

Sie erzählen davon, wie unterschiedlich in Familien von Überlebenden der Nazi-Zeit die ältere und die jüngeren Generationen mit der Last der Vergangenheit umgehen, was oft zu Konflikten in den jeweiligen Familien führt. Ein Thema, das schon Art Spiegelman in „Maus“ oder zuletzt Miriam Katin in „Letting it Go“ thematisiert hat. War das auch in Ihrer Familie ein Konfliktthema?

Nein – denn niemand wollte offen darüber sprechen. Das heißt, es war irgendwie doch ein Konflikt, aber der wurde eben nicht offen ausgetragen. Mein Vater, der mit sieben oder acht Jahren aus Polen nach Israel kam, versuchte von Anfang an, israelischer als die Israelis zu sein. Und meine Mutter wurde in Israel geboren. Die Atmosphäre war damals so, dass alle zusammen ein neues Land bauen und die Geschichte hinter sich lassen. Das war sehr schmerzhaft für diese Generation, denn sie hatten nichts aus ihrer Vergangenheit, wohin sie zurückgehen konnten, erst wegen der Nazis, dann wegen der Kommunisten. Dazu kam dieses ständige Schuldgefühl, dass sie überlebt haben, weil sie rechtzeitig fliehen konnten. Daher wurde bei uns in der Familie nie offen darüber gesprochen. Und ich hatte ehrlich gesagt auch lange kein Interesse an diesem Thema.

Bei der Thematisierung des Holocaust in „Das Erbe“ fällt auf, dass Sie sich in einigen Szenen fast ein wenig lustig über den Umgang mit dem Gedenken an den Nationalsozialismus machen, indem sie einen israelischen Lehrer von der Schrecklichkeit der NS-Gedenkstätten schwärmen lassen und eine Neuinszenierung der deutschen Besatzung als Farce vorführen. Offensichtlich finden Sie, dass beim Umgang mit der Vergangenheit ein paar Dinge schief laufen…

Ja, ich sehe einige Aspekte des Umgangs mit der Holocaust-Erinnerung kritisch. Deswegen gibt es diese ironischen Bezüge. Ich sehe zum Beispiel die Polen-Touren kritisch, auf die israelische Schüler regelmäßig geschickt werden. Die Kinder interessiert das nicht wirklich – und ich finde die Vorstellung schwer erträglich, dass sie dort am Vormittag durch Auschwitz wandern und am Nachmittag T-Shirts bei H&M kaufen. Da habe ich einfach gemischte Gefühle. Gleichzeitig ist es wichtig, auch jüngeren Generationen zu vermitteln, was da einst passiert ist. Aber für Kinder im Alter meiner Tochter, die 17 ist, ist der Zweite Weltkrieg so weit weg wie die Zeit Naopoleons. Und für mich eigentlich auch, wenn ich nicht Menschen getroffen hätte, deren Leben von der Geschichte noch direkter beeinflusst waren. Und es ärgert mich auch, wie der Holocaust politisch benutzt wird, zum Beispiel um jungen Israelis zu sagen, dass sie in die Armee müssen, um zu verhindern, dass so etwas wie der Holocaust noch einmal passiert. Das ist eine sehr gefährliche Botschaft, auch weil sie dazu beiträgt, sich zum Opfer zu machen.

Lebendiger Friedhof: Die beiden Hauptfiguren von "Das Erbe" auf dem Buchcover.
Lebendiger Friedhof: Die beiden Hauptfiguren von "Das Erbe" auf dem Buchcover.

© Carlsen

In künstlerischer Hinsicht ist an Ihrem Buch faszinierend, wie sie Ihren mal einfühlsamen, mal kritischen Blick auf derart gehaltvolle Themen mit einem eleganten, fast verspielten Zeichenstil kombinieren, der an die Ligne Claire von Tim-und-Struppi-Schöpfer Hergé erinnert. Wieweit ist Ihr Zeichenstil eine ganz bewusste gestalterische Entscheidung, oder hat der sich eher über die Jahre so entwickelt?

Der hat sich tatsächlich eher im Laufe der Zeit so entwickelt. In den vergangenen 20 Jahren bin ich von so vielen unterschiedlichen Zeichnern und Künstlern beeinflusst worden, dazu kam mein Bestreben, realistische Bilder zu zeichnen – daraus hat sich einfach dieser Stil entwickelt. Und was Hergé angeht: Der hat mich schon beeinflusst. Aber weniger seine Linienführung. Ich finde ihn vor allem als Bilderzähler wichtig, der wie kaum ein anderer die Fähigkeit hatte, 20 Panels auf einer Seite unterzubringen und trotzdem alles ganz klar erscheinen zu lassen. Die Ligne Claire ist für mich vor allem eine klare Art, Geschichten zu erzählen und Seiten zu komponieren. Hergé vermittelt enorm viele Informationen, ohne dass man sich als Leser mit Details überfordert fühlt. Das will ich auch erreichen.

Rutu Modan: Das Erbe, Carlsen, 222 Seiten, 25,90 Euro, aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer, Lettering Christoph Feist und Gunta Lauck.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false