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Jurjews KLASSIKER: Die Schwingen eines Adlers

Ende letzten Jahres eroberte ein Roman namens „Die Fünf“ die Herzen der deutschen Leser. Nur wer war sein Autor?

Ende letzten Jahres eroberte ein Roman namens „Die Fünf“ die Herzen der deutschen Leser. Nur wer war sein Autor? Jedenfalls kein Franzose, wie es die Schreibweise seines Namens, Jabotinsky, nahelegt. Sie geht wohl darauf zurück, dass die erste Ausgabe seines Werk 1936 in Paris erschien – dort, wo es auch entstanden war. Richtig ist Schabotinsky, richtiger: Vladimir Zhabotinsky.

Mit dem Rufnamen ist es noch komplizierter: Der 1880 in Odessa geborene Junge hieß eigentlich Velvl, was die jiddische Entsprechung des deutschen Wolf ist. Erst als berühmter Übersetzer und Publizist ließ er sich umbenennen. Solche Namensänderungen waren gang und gäbe bei emanzipierten Juden, die ihre Angehörigkeit zur russischen Hochkultur zeigen wollten: Aus Jankel wurde Jakov, aus Nathan Nikolai, aus Pinchus Pjotr. Der Kischinjower Pogrom von 1903 zerstörte indes den Glauben der Juden an den russischen Staat, ihnen ausreichenden Schutz zu gewährleisten. Der Staat hatte daran offenbar kein Interesse, so wenig wie die kulturtragende Schicht, die ein gewisses Verständnis für antijüdische Exzesse zeigte. Zhabotinsky wurde zum Feind der Anpassung und zum Zionisten. Später begann er sich Zeev (Sejew) zu nennen, eine hebräische Übersetzung des alten deutschen Wolfs.

Der russische Schriftsteller Alexander Kuprin, für Judophobie wie Judophilie bekannt, schrieb einem jüdischen Kollegen: „Zhabotinsky ist ein geborenes Talent, er kann zu einem Adler der russischen Literatur werden, ihr aber habt ihn uns geklaut, einfach geklaut! Gott, was habt ihr mit diesem jungen Adler gemacht? Ihr habt ihn in euer jüdisches ,Ansiedlungsrayon’ geschleppt (Territorien, in denen die Juden auf Dauer wohnen durften, O.J.) und ihm die Flügel beschnitten.“

Zhabotinsky wurde zum Begründer des „revisionistischen Zionismus“, einer ebenso antisozialistischen wie militanten Bewegung, die für vieles stand, doch niemals für einen „jüdischen Faschismus“, wie ihm linke Zionisten vorwarfen. Viel mehr als für die russische Literatur schien er für das jüdische Volk und den Staat Israel zu tun, dessem Gründung er nicht mehr erlebte. Er starb 1940 in New York. Jetzt aber ist fast jedem klar geworden, dass allein sein Roman „Die Fünf“ (aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Die Andere Bibliothek, Berlin, 267 S., 36 €) ihn zu einem der größten russischen Prosaautoren des 20. Jahrhunderts macht.

„Die Fünf“ ist eine traurige Familiengeschichte aus Zhabotinskys Kinder- und Jugendzeit in Odessa. Ein Roman, der eigentlich nicht gelingen konnte, weil ihm eine scheinbar zu theoretische, zu künstliche Idee zugrunde gelegt wurde. Er will nämlich am Beispiel der fünf Geschwister Milgrom fünf Grundvarianten des „jüdischen Weges“ im 20. Jahrhundert zeigen. Selbstverständlich kann man das Leben in fünf Varianten nicht ausschöpfen, es gibt unzählige Zwischenformen und Wendungen, Zhabotinsky jedoch hat sein Pentagramm bis zum Ende gezeichnet. Der Roman ist ihm darüber aber ganz und gar nicht schematisch geraten.

Lebendigkeit und Dreidimensionalität gibt ihm der sehnsüchtige Blick aus dem Paris der 30er Jahre. Zhabotinsky ist in das Odessa seiner Jugendzeit verliebt, in dessen Geräusche, Gerüche, Farben, in den aus vielen Sprachen gemischten Dialekt. Dazu kommt das traurige Wissen über das Schicksal der Juden Südrusslands in der Revolution und im Bürgerkrieg, das so grausam war, dass es nur noch vom Holocaust in den Schatten gestellt werden konnte.

Zhabotinskys Blick produziert ein zartes pastellfarbenes Flair, das „Die Fünf“ grundlegend von den Werken der „südrussischen Schule“ (Babel, Olescha, Bagrizky und andere großartige Odessaer Dichter) unterscheidet. Sie zelebrierten die Schärfe des Lebens, des Liebens, des Sehens, auch des Tötens, sie genossen das Sprachwirrwarr und eine gewisse kriminelle Romantik, ohne die Odessa nicht mehr Odessa wäre. Zhabotinsky hingegen schrieb einen „englischen Roman“ in russischer Sprache: witzig, melancholisch, aufmerksam, psychologisch genau und aus einer angenehmen Distanz heraus. Diesem Adler der russischen Literatur kann niemand mehr die Schwingen stutzen.

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