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Jurjews KLASSIKER: Lauter erste Lebensschreie

Die Dichtung ist das beste an Russland. Ihr Gründer: Der 1711 im hohen Norden Russlands in dem kleinen Dorf Mischaninskaja geborene Bergbaustudent Michail Wassiljewitsch Lomonossow mit seiner Ode an die Eroberung der Festung Chotyn.

Aus dem Gedächtnis haben die Jahre weggenagt: / Für was und wer ist in Chotyn gefallen, / Aber der erste Laut der Chotyner Ode / Ist zum ersten Lebensschrei für uns geworden, – schrieb 1938 im Pariser Exil Wladislaw Chodassewitsch (1886 - 1939), einer der bittersten und unnachgiebigsten russischen Lyriker des 20. Jahrhunderts. Chotyn, frischen wir Chodassewitschs gymnasiale Geschichtskenntnisse auf, ist eine Kreisstadt in der heutigen Ukraine. Im 18. Jahrhundert gehörte das überwiegend von Juden bewohnte Städtchen zum Osmanischen Reich. Am 19. August 1739 wurde es von russischen Truppen erobert.

Am Ende desselben Jahres kam in Petersburg ein Brief an, der zur Sensation wurde. Der in Deutschland auf Staatskosten Bergbau studierende 28-jährige Michail Lomonossow hatte der Akademie eine Ode an die Eroberung der Festung Chotyn geschickt. Die Ode war in bis dahin für die Russen völlig unbekannten Versen geschrieben: Jambus, syllabotonisch. Bisher hatte man in Russland nur Syllaben gezählt, das heißt Silben – nach polnischer Art. Die syllabotonische Versifikation, bei der nicht allein Silben gezählt werden, sondern auch Betonungen, bezauberte die Russen sofort. Die Lomonossow-Ode, die in der Tat ein wunderbares Gedicht ist und seinerzeit auch mit einem Brief versehen war, der die Vorzüge des neuen Versbaus erläuterte, war der erste Lebensschrei der russischen Poesie, wie wir sie heute kennen.

Seinen ersten Lebensschrei gab Michail Wassiljewitsch Lomonossow (19. November 1711 - 4. April 1765) im Dorf Mischaninskaja von sich, im hohen Norden Russlands. Lomonossows Vater Wassilij, ein freier, also nicht leibeigener Bauer, war Fischer und besaß ein eigenes Schiff. Sein Sohn lernte selbstverständlich alles, was für einen Seemann notwendig war: Grundlagen der Mathematik, Astronomie und Geographie. Die freien nordrussischen Bauern, die sogenannten Pomoren (die Ähnlichkeit mit Pommern ist nicht zufällig, beides bedeutet in slawischen Sprachen: am Meer lebende) verfügten über Kenntnisse, die sie aus dem Mittelalterrussland, abgedrängt von Mongolen, deutschen Rittern und später den Moskauer Großfürsten mit ihrem Alleinherrschaftsanspruch, in den Norden gerettet hatten. Das war eine sehr interessante alte Kultur, aber den jungen Lomonossow dürstete es nach dem modernen, europäischen Wissen.

Mitte Dezember 1730 geht er gegen den Willen seines Vaters nach Moskau: mit einem Tross, der gefrorenen Fisch zu Moskauer Märkten transportierte. Dieser Fischtross ist ein integraler Bestandteil des Lomonossow-Mythos’, der in der russischen Kultur ein Gründermythos zweiten Grades ist – Peter der Große hat den modernen russischen Staat erschaffen. Lomonossow, der Bauernjunge, der am 15. Januar 1731 in Moskau in die Slawogriechische Akademie aufgenommen wurde (wofür er seine bäuerliche Herkunft leugnen musste, weil Bauern keinen Zugang zu dieser Schule hatten), hat Peter I. quasi gedoppelt. Nicht zufällig wollten Legenden einen unehelichen Sohn des Zaren in ihm sehen: Peter I. war ja oft in der Gegend, er kannte wahrscheinlich Lomonossows Familie...

1736 schickte man Lomonossow zum Studieren nach Deutschland. In Marburg und Freiberg hat er sich nicht nur durch seine unumstrittenen Talente ausgezeichnet, sondern auch durch grandiose Trinkgelage und Schlägereien. Er hat eine Deutsche geheiratet, die Tochter seiner Hausvermieterin in Marburg – eher zur Tilgung der Schulden als aus Liebe. Auf dem Rückweg nach Russland (die Frau hatte er mit zwei Kindern zurückgelassen; sie kam nach, viele Jahre später) wurde er von Rekrutenfängern des Preußenkönigs „angeworben“ und floh nach Amsterdam. Von dort fuhr er per Schiff nach Petersburg, um zum Gründer der modernen russischen Kultur zu werden: Literatur, Sprachwissenschaft, Geschichte, Technik, Physik, Chemie und und und.

Aber das Wichtigste sind für mich seine Gedichte. Ich kann nicht beurteilen, ob er die russische Physik oder Chemie gegründet hat, aber die russische Dichtung hat er ja gegründet!

Und die russische Dichtung ist wirklich das Beste an Russland. Danke, Michail Wassiljewitsch!

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