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Konrad Schuller: Fremdenführer durch die Hölle

Massaker und Menschlichkeit: Konrad Schullers Buch über das Naziverbrechen im ostpolnischen Borów.

So war es“, lautet der letzte Satz des Buches, mit dem uns der Verfasser sagen will, dass es ihm vor allem um die treue Wiedergabe dieser wenig bekannten, erschütternden Kriegsereignisse ging. Eine Hommage an die Erzähler, die zugleich Überlebende und Gezeichnete sind. Eine bewusste Entscheidung, den Krieg aus der Sicht der Opfer zu betrachten. Ihre Berichte geben diesem sachlichen, sorgfältig recherchierten Buch sowohl authentische Tragik, als auch eine gewisse diskrete Lyrik.

Wie war es denn? Im Februar 1944 wurden das ostpolnische Dorf Borów und einige Nachbardörfer im Rahmen einer von Wehrmacht und SS durchgeführten terroristischen „Befriedungsaktion“ ausgelöscht. Über 900 Menschen kamen dabei ums Leben. In Deutschland kennt man den Terror im tschechischen Dorf Lidice oder in der französischen Kleinstadt Oradour. Dass es in Polen über 750 Lidices und Oradours gibt, weiß kaum jemand.

Konrad Schuller bewegte die wenigen Überlebenden des Massakers zum Erzählen, um die Abfolge der Gräueltaten möglichst genau zu rekonstruieren. Er konfrontiert ihre Aussagen mit sowohl in Polen als auch in Deutschland gesammelten Zeugnissen aus der Nachkriegszeit. Er verwendet Berichte der beteiligten Soldaten, amtliche Schriften der Besatzer sowie Abhandlungen polnischer historischer Institute und stellt eine „frappierende Übereinstimmung“ zwischen den Schilderungen der deutschen Soldaten und denen der Dorfbewohner fest. Was aber in den Augen aller Überlebenden eine erbarmungslose Jagd auf unbewaffnete Frauen und Kinder war, wurde in der Amtssprache der Besatzungsbehörden zum soldatischen Kampf gegen eine „Bande von Bolschewiken“.

Eigentlich hätte man sich solche Umdeutungsbemühungen sparen können. Schuller zitiert eine eindeutige Weisung Hitlers, „unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung in den Tod zu schicken“. Die Täter von Borów sind nie zur Rechenschaft gezogen worden. Vielleicht aus Mangel an Beweisen, oder wegen Befehlsnotstands. „Europa hat den deutschen Terror in den Dörfern Polens nie zur Kenntnis genommen“, wundert sich Schuller.

In seinem Buch findet keine „abstrakte Geschichte“ statt. Hier kommen keine „Bevölkerungsgruppen“ irgendwie während der „Kriegshandlungen“ um, sondern werden sehr konkrete Menschen von nicht weniger konkreten Menschen erschlagen, erstochen oder ins Feuer geschleudert. Die Erzählenden stehen immer im Vordergrund, sie werden zu Fremdenführer in der Hölle, die geduldig, mit sehr vielen Details geschildert werden muss. Aber sie haben auch Gesichter, Biografien, Nachkommen und Probleme. Sie haben ihr Leben danach: Schuller versucht nicht, dem Leser sein verarbeitetes Bild zu vermitteln, das die Wirklichkeit ersetzen soll. Im Gegenteil, er beschäftigt sich noch weiter mit der Gegenwart seiner neuen Bekannten, Schuller sucht ihre Familienmitglieder in entfernten Gegenden Polens auf, nimmt an Hochzeiten und gelegentlichen Treffen teil. Jeder ist besonders, und jedem gebührt ganz besondere Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit sowie die intensive Beschäftigung mit persönlichen Schicksalen der Überlebenden ist ein überzeugender Versuch des Autors, ihnen jene Menschlichkeit, derer sie beraubt wurden, zurückzugeben.

Konrad Schuller hat ein geradezu „polnisches“ Buch geschrieben. In Polen erfreut sich die Reportage generell ungewöhnlich großer Popularität, sie wird auch eher als literarische Gattung angesehen. In dieser Tradition sollen die engen soziologischen Schranken einem literarischen Instrumentarium weichen. Die Anhänger dieser Reportagen-Schule verfolgen ein klares Ziel – sie beschäftigen sich mit den Anderen, auch weil sie mehr über sich selbst lernen möchten. Genau das wollte uns der Klassiker dieses Genres, Ryszard Kapuscinski, mit seinen literarischen Reportagen über entfernte Gesellschaften beibringen: Man muss den Anderen verstehen lernen, um sich selber zu verstehen. Sein gesamtes Werk gleicht einem geduldigen Aufstellen kultureller Spiegel der Anderen. In diesen Spiegeln sollen wir uns selbst, ungeschminkt, betrachten.

Was sieht man in dem Spiegel, den uns Konrad Schuller vorhält? Nur Finsternis und Verzweiflung? Eignet sich eine Berichterstattung aus der Hölle überhaupt für halbwegs optimistische Aussagen? In den Erzählungen der Zeitzeugen aus Borów haben die Geschichten „von Soldaten, die nicht schossen“ einen festen Platz. Ihnen verdankt man das Leben. Ihre Regungen von Menschlichkeit wirken wie ein Lichtblick, geben den Überlebenden die Chance, auch eine andere Sprache zu sprechen und an der menschlichen Natur nicht ganz zu verzweifeln. Dem Buch eröffnet dies wiederum die Möglichkeit, unbefangener in die Zukunft zu schauen, es nicht bei der Diagnose zu belassen, sondern auch nach Rezepten zu suchen. Oder Sensibilität für das Schicksal der anderen zu wecken. Zum Beispiel mussten nach dem Krieg viele Deutschen, Polen oder Ukrainer ihre Heimat verlassen.

Nach dem Systemwechsel von 1989 begannen auch polnische Autoren , die Zeit der verlogenen kommunistischen Geschichtspolitik nachzuholen oder – besser gesagt – zu „reparieren“. Sie widmeten sich zunächst den sogenannten „weißen Flecken“ im polnisch-russischen Verhältnis und den Schattenseiten der polnischen Geschichte – etwa der Beteiligung von Polen an den Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung oder den Racheakten und Gewaltexzessen während der Zwangsaussiedlung der Deutschen –, denn es war eine polnische Legende, dass hier immer alles ordnungsgemäß verlief. Dagegen ist es eine deutsche Legende, dass dieses Thema in Polen ein Tabu ist. Viele Autoren bemühten sich, ihre Finger in die Wunden zu legen, um die eigenen Verdrängungsmechanismen aufzudecken und ihnen auf den Grund zu kommen.

Wenn Konrad Schuller in seinem Buch die deutschen Selbstlügen und Verdrängungsvarianten entlarvt, weiß er genau, dass er sich auf derselben Wellenlänge mit den polnischen Autoren befindet, die in ihrem Kontext dasselbe tun. Die deutsche Öffentlichkeit weiß das allerdings nicht. Sie hat sich daran gewöhnt, in polnischen Stimmen – zu allen möglichen Themen – sehr oft Geschichtsparanoia oder „seltsame Ansichten“ zu wittern. Dazu kommen die offensichtlichen Wissensdefizite über die Zeit zwischen 1939 und 1945 im besetzten Polen. Je weniger man in Deutschland darüber weiß, desto leichter fällt es, die Polen etwa als Vertreibernation oder Urheber allen deutschen Leids zu brandmarken.

Wobei man doch eigentlich wissen müsste, dass die Westverschiebung der polnischen Grenzen kein Akt souveräner polnischer Politik war. Ähnlich viel hatten wir zu sagen, als man uns mit dem kommunistischen „Traum“ beglückte. Noch in den 90er Jahren fiel uns immer wieder auf, dass der Warschauer Aufstand von 1944, immerhin die größte Erhebung des Zweiten Weltkrieges, in Deutschland ein eher wenig bekanntes Ereignis war und meistens mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto verwechselt wurde. Wenn wir das – vorsichtig und diskret – richtig stellen wollten, wurden wir sofort einer obsessiv rückwärtsgewandten Haltung bezichtigt. Geschichtsparanoiker – diese Polen…

Konrad Schuller begibt sich auf die Suche nach weniger sichtbaren, manchmal verdeckten Ursachen unseres unkritischen Denkens und einer bequemen Bereitschaft, zu viele Trennungsstriche zwischen uns und den Anderen zu akzeptieren oder statt auf die anderen neugierig zu blicken, ihnen pauschal „seltsame Ansichten“ zuzuschreiben. Sein Buch erinnert uns daran, dass die Mauer in den Köpfen weiterhin lebt, dass Ost und West sich noch einiges erzählen müssen. „Der schlimmste Aspekt der Mauer besteht darin, dass sie in vielen Menschen eine Haltung von Mauerverteidigern entstehen lässt, dass sie ein Denken hervorbringt, in dem durch alles eine Mauer verläuft, die unsere Welt in Böse und Niedrige – die da draußen – und Gute und Höherstehende – die drinnen – einteilt“ (R. Kapuscinski). Unsere Bedürfnisse nach Mauern, Grenzen und Trennungsstrichen sind in der Zeit des Kommunismus hinreichend befriedigt worden.

Vielleicht sollten wir deshalb den 20. Jahrestag des politischen Umbruchs und des Mauerfalls dazu verwenden, unser Bedürfnis nach mehr Zusammenhalt und Gemeinschaft in Europa zu befriedigen? Wir haben eine seltene Gelegenheit, aus der national-heroischen Perspektive auszubrechen und damit zu beweisen, dass ein Wir-Gefühl auch ohne Trennungsstriche zu produzieren ist. Und dass wir aus der von Konrad Schuller erinnerten Geschichte etwas gelernt haben.

Der Autor ist polnischer Botschafter in Deutschland.

Konrad Schuller: Der letzte Tag von Borów. Polnische Bauern, deutsche Soldaten und ein unvergangener Krieg. Herder Verlag,  Freiburg 2009. 199 Seiten, 17,95 Euro.

Marek Prawda

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