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Gastkommentar: "Wir müssen den Ägyptern vertrauen"

Die Freiheitsrevolution in Ägypten verdient uneingeschränkte Unterstützung, findet der ehemalige Außenminister Genscher. Der Militärführung muss klar sein, dass ihre Machtdauer begrenzt ist.

Wieder einmal hoffen und bangen wir mit Menschen in anderen Ländern, mit Menschen, die nichts anderes wollen als Freiheit, als soziale Gerechtigkeit, als Achtung ihrer Menschenwürde.

Auch in Ägypten sind wir Zeuge einer Freiheitsrevolution und einer sozialen dazu. Eine neue Kultur der Freiheit und der Friedfertigkeit ist entstanden – und sie hat sich durchgesetzt.

Als die Millionen in Ägypten ihre Stimme erhoben, erhielten sie Zustimmung aus fast aller Welt – zu Recht. Über Nacht ist die These widerlegt von der mangelnden Freiheits- und Demokratiefähigkeit der muslimischen Völker. Die Türkei zeigt das seit langem; in Tunesien wurde die Diktatur beseitigt – friedlich; und nun auch in Ägypten. Was dort geschieht, ist beispielgebend und wird Folgen haben, auch in anderen arabischen Ländern. Unter unterschiedlichen Bedingungen – gewiss. Aber der Ruf nach Freiheit und Veränderung ist unüberhörbar.

Was ist in Kairo geschehen? Als der ägyptische Präsident Anwar el-Sadat 1979 Frieden mit Israel schloss, ging ein Aufatmen durch die Welt. Als er ermordet wurde, war die Welt erschüttert und zutiefst besorgt. Der von Sadat für einen solchen Fall ausgesuchte Vizepräsident Hosni Mubarak übernahm das Präsidentenamt. Sofort erklärte er, und danach bewies er: Die historische Entscheidung Sadats für den Frieden mit Israel wird nicht angetastet. Mubarak wurde zum Garanten dieser Friedenspolitik. Und mehr noch: Er setzte sich mit großem Engagement für eine Überwindung der Gegensätze zwischen Palästinensern und Israelis ein.

Bei dieser Politik blieb er bis zu seinem Rücktritt. Mit Mubaraks Amtsantritt hatten sich aber auch viele Hoffnungen verbunden, er werde das Land modernisieren, öffnen und schließlich demokratisieren. Mit zunehmender Amtsdauer allerdings wurden gerade diese Hoffnungen immer deutlicher enttäuscht.

Eine neue Generation von Ägyptern in einer neuen Zeit der Informations- und Kommunikationstechnik hat das Schicksal Ägyptens in die Hand genommen und in wenigen Tagen das Land verändert. Geblieben sind Einfluss und Gewicht der Streitkräfte. Sie haben verhindert, dass die Revolution blutig erstickt wurde. Sie tragen jetzt die Verantwortung dafür, dass die von ihnen versprochenen Veränderungen stattfinden. Erforderlich ist die Einsicht, dass Demokratien in ihrem Friedenswillen verlässlicher sind als autoritäre Staatsführungen.

Wir sollten mehr Vertrauen in die Friedfertigkeit demokratischer Staaten haben. Auch die Militärführung in Kairo hat Klarheit geschaffen. Die von Ägypten geschlossenen Verträge werden nicht angetastet. Das gilt auch und vor allem für den Friedensvertrag mit Israel.

Die Europäische Union muss ihre Mittelmeerpolitik nunmehr – und das ohne Zögern – ausrichten auf die Hilfe bei der Erfüllung der Erwartungen der tunesischen und der ägyptischen Freiheitsrevolutionäre. Mehr Freiheitschancen müssen auch mehr Lebenschancen für sie bedeuten.

Der Militärführung muss klar sein, dass für die demokratische Welt die konsequente und zeitlich auf sechs Monate befristete Machtausübung nicht infrage gestellt werden darf. Zu der Chance eines Neuanfangs in der gesamten Region gehört auch ein kraftvoller Neubeginn des Friedensprozesses zwischen Israel und den Palästinensern. Auf die Einhaltung des Friedensvertrages durch das neue Ägypten kann Israel vertrauen. Aber dass Völker, die sich selbst friedlich ihre bürgerlichen Freiheiten erstritten haben, laut nach der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes rufen werden, sollte niemanden erstaunen.

Jetzt geht es darum, dem ägyptischen Volk das Vertrauen entgegenzubringen, das ihm nach der gelungenen Freiheitsrevolution gebührt. Selbst und friedlich errungene Freiheit: Das ist die deutlichste Autorisierung eines Systemwechsels.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Außenminister.

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