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7 Milliarden Menschen: Wie viele Menschen kann die Erde tragen?

Um das Jahr 1800 lebten gerade mal eine Milliarde Menschen auf der Welt. Mehr als 120 Jahre dauerte es, bis es zwei wurden. Doch dann ging es immer schneller. Am Montag werden wir sieben Milliarden Menschen sein.

Die Uhr tickt unerbittlich: die Bevölkerungsuhr der Vereinten Nationen (UN). Jede Sekunde kommen zwei neue Erdenbürger hinzu. Am Montag wird sie die Marke von sieben Milliarden überspringen. Das Datum haben die UN vorab festgelegt. Ganz exakt lässt sich das schließlich nicht ermitteln. Auch die weitere Entwicklung ist nicht sicher vorhersagbar. Doch es gibt eindeutige Trends. Und demnach wird das rasante Bevölkerungswachstum noch einige Jahrzehnte anhalten. Erst von den 30er Jahren diesen Jahrhunderts an dürfte es sich allmählich verlangsamen. In den 80er Jahren wird voraussichtlich die Zehn-Milliarden-Marke gerissen. Hätte China nicht vor gut 30 Jahren die Ein-Kind-Politik eingeführt, wäre dies schon viel früher der Fall. Auch anderswo werden die Familien dank moderner Familienplanung immer kleiner. Nicht nur in den westlichen Industrieländern, wo schon heute weniger Kinder geboren werden als Greise sterben.

Derzeit kommen jedes Jahr rund 78 Millionen Menschen hinzu. Weniger als 15 Jahre dauert es so, bis eine neue Milliarde erreicht ist. Noch scheint die Erde aber nicht am Limit. Denn trotz aller pessimistischen Prognosen geht es den Menschen in vielen Teilen der Welt heute besser als noch vor 50 Jahren. In einigen Ländern Südostasiens beispielsweise und in Lateinamerika, wo allerdings gleichzeitig ein extremes Wohlstandsgefälle entstanden ist und neue Krisen nicht ausgeschlossen sind, seit Finanzspekulationen auf Agrarrohstoffe die Lebensmittelpreise hochtreiben.

Allein China ist es gelungen, Millionen Menschen aus der Armut zu befreien. Selbst in Afrika, wo weiter viele Kinder geboren werden, Kriege toben und der Klimawandel wie zuletzt in Ostafrika schwere Dürren verursacht, hat sich die Lage insgesamt gesehen nicht verschlechtert.

Die absolute Zahl der Hungernden steigt zwar, doch der Anteil unterernährter Menschen an der Weltbevölkerung ist allein seit 1990 von 20 Prozent auf 15 Prozent zurückgegangen – weil die Landwirtschaft effektiver ist und mehr Regierungen durch Sozialprogramme aktiv etwas gegen Armut unternehmen. Klaus von Grebmer vom Internationalen Forschungsinstitut für Ernährungspolitik (IFPRI) ist sich sicher: „Wir können sieben Milliarden Menschen und noch mehr ernähren, wenn nachhaltig gewirtschaftet wird.“ Wenn Wasser effizient genutzt wird und auch Kleinbauern besser und mehr produzieren. Land, Wasser und Energie, sagt der Experte, seien die Spannungsfelder der Zukunft. „Darum wird es Kriege geben.“ Schon seit den frühen 80er Jahren lebt die Menschheit über die Verhältnisse der Erde. Derzeit bräuchten wir etwa anderthalb Planeten, um den Hunger nach Energie, Rohstoffen und Land so zu decken, dass für unsere Nachkommen etwas übrig bleibt. Europäer und Amerikaner sind mit Abstand am gierigsten. Und sie sind nicht bereit, sich zugunsten ärmerer Länder einzuschränken. Denn das würde bedeuten, auf Wohlstand zu verzichten.

Ob es einem Kind, das heute geboren wird, einmal gut gehen wird, hängt also auch weiterhin entscheidend davon ob, wo es aufwächst. Ulrike Scheffer

Lesen Sie auf Seite zwei mehr darüber, wie es ist, in Indien aufzuwachsen.

Lakshmi lebt in armen Verhältnissen. Doch es geht ihr besser als Millionen anderen Kindern in Indien, denn hungern muss sie nicht.
Lakshmi lebt in armen Verhältnissen. Doch es geht ihr besser als Millionen anderen Kindern in Indien, denn hungern muss sie nicht.

© chm

Sofi hat beide Eltern verloren und lebt nun in einem SOS-Kinderdorf. Ihr Vater starb als Soldat, ihre Mutter an Aids.
Sofi hat beide Eltern verloren und lebt nun in einem SOS-Kinderdorf. Ihr Vater starb als Soldat, ihre Mutter an Aids.

© promo

Indien

Das Zuhause von Lakshmi ist eine fensterlose Garage, die als Dienstbotenquartier dient. Zwei Charpais, die indischen Liegen, die viele Arme als Bett nutzen, stehen in dem dunklen Raum und nehmen fast allen Platz ein. Auf der einen Liege schlafen die Eltern, auf der anderen die vierjährige Lakshmi und ihr zehn Monate alter Bruder Arun. Wie Hunderttausende andere sind ihre Eltern in der Hoffnung auf ein bisschen mehr Wohlstand vor der Armut auf dem Lande in die große Stadt Delhi geflohen, die mit 18 Millionen Einwohnern längst aus allen Nähten platzt. Lakshmis Vater arbeitet nun als Chowdikar, als Wächter, für eine wohlhabende Familie in einem der besseren Viertel im Süden Delhis. Ihre Mutter Rekha putzt stundenweise. Auf 5000 Rupien, umgerechnet knapp 80 Euro, kommen sie so im Monat. Das Geld reicht gerade, um die Familie satt zu bekommen.

Um zu sparen, trägt Arun die Sachen seiner Schwester auf. In der rosa Bluse mit den Blümchen sieht er selbst wie ein Mädchen aus. Es ist kaum Spielzeug da, nur eine Puppe mit angeschlagenem Gesicht liegt auf einem der Charpais herum. Dafür sind die Kleider von Arun und Lakshmi sauber und ohne jeden Fleck. Und sie bekommen jeden Tag zwei warme Essen, meist Reis mit Linsen. Wenn jemand krank wird, geht die Familie zu einem der vielen Quacksalber oder Homöopathen, die sich um die Armen kümmern und kaum etwas kosten. „Die Regierungskrankenhäuser sind so voll“, sagt Rekha zur Begründung.

In Deutschland würde die Familie als bitterarm gelten, aber in Indien geht es Lakshmi noch besser als Millionen anderer Kinder. Sie muss nicht hungern. Das Gandhi-Land wird zwar als aufstrebende Wirtschaftsmacht gefeiert, doch fast jedes zweite Kind ist unterernährt. Auf 1000 Geburten gerechnet, sterben 66 Kinder, bevor sie fünf Jahre alt sind – in Deutschland sind es knapp vier: Allein 2009 starben 1,7 Millionen Kinder unter fünf Jahren – an Hunger, an Krankheiten wie Durchfall, Masern oder Tetanus, die im Westen leicht behandelbar oder durch Impfungen vermeidbar wären.

Jedes Jahr werden mehr als 27 Millionen Kinder geboren. Damit dürfte Indien den übermächtigen Rivalen China bereits 2025 bei den Einwohnerzahlen überrunden. Ebenso wie im Land der Ein-Kind-Politik wachsen auch hier immer mehr Jungen auf. Mädchen werden massenhaft gezielt abgetrieben, denn für sie müssen ihre Familien später eine Mitgift aufbringen, während Jungen traditionell die Eltern im Alter versorgen. In China hat der Mädchenmangel andererseits bereits dazu geführt, dass kriminelle Banden junge Frauen entführen und als Bräute an „Jungen-Familien“ verkaufen.

In Indien hängen die Zukunftschancen eines Kindes noch immer davon ab, ob es in eine arme oder reiche Familie hineingeboren wird, auf dem Land oder in der Stadt aufwächst. Zwar wird das Kastensystem durchlässiger. Doch die Gesellschaft ist weiter stark hierarchisch geprägt. Wenn am Abend die Sprösslinge aus wohlhabendem Hause im Park Judo und Tennis lernen, schauen die Kinder der Dienstboten respektvoll zu.

Zwar wird Indiens neue Mittelschicht heute – je nach Definition – auf sechs bis 30 Prozent der Bevölkerung geschätzt, doch auch die Armut wächst. Der Kampf um die Zukunft beginnt früh. Die staatlichen Schulen gelten als miserabel. Und so versuchen unzählige Eltern, einen Platz an einer der besseren Vorschulen und Schulen zu ergattern, an denen die Kinder Englisch lernen. Der Leistungsdruck ist enorm. Immer wieder berichten Zeitungen über Selbstmorde von Schülern und Studenten, die schlechte Noten bekamen. Doch die guten Schulen können sich Lakshmis Eltern ohnehin nicht leisten. Ihre Mutter kann selbst kann kaum lesen und schreiben. Auch Englisch spricht sie nicht. Dabei ist Englisch in Indien noch immer das Ticket für den Aufstieg. Und den erhoffen sich Lakshmis Eltern vor allem für ihren Sohn. Denn während die Tochter Lakshmi später zu ihren Ehemann und dessen Familie ziehen wird, ist Arun, der Sohn, eben auch ihre Alterssicherung. Er wird sich später um sie kümmern müssen. So war es früher, und so ist es auch heute. In Indien gibt es kein Rentensystem, kein soziales Netz. Wer kein Geld hat, landet schnell auf der Straße. „Ich hoffe, dass Arun uns im Alter ernährt“, sagt Rekha. Deshalb hofft sie, dass ihr Sohn eines Tages mehr Geld verdient als der Vater. Was er einmal werden könnte? „Vielleicht Chauffeur“, meint die Mutter unsicher. Chauffeure stehen in der Hackordnung über den Wächtern. Christine Möllhoff

Lesen Sie auf Seite drei mehr darüber, wie es ist, in Uganda aufzuwachsen.

Leo ist ein sorgloses Kind. Seine älteren Geschwister spüren dagegen schon die Auswirkungen der Wirtschaftskrise.
Leo ist ein sorgloses Kind. Seine älteren Geschwister spüren dagegen schon die Auswirkungen der Wirtschaftskrise.

© cvm

Fabian mag Seifenblasen. Ihm fehlt es bisher an nichts. Außer vielleicht an Geschwistern. Er ist ein Einzelkind.
Fabian mag Seifenblasen. Ihm fehlt es bisher an nichts. Außer vielleicht an Geschwistern. Er ist ein Einzelkind.

© Doris Spiekermann-Klaas

Uganda

Sofi (Name geändert) hat wieder eine Mutter. Eine liebevolle noch dazu. Deshalb ist das vierjährige Mädchen jetzt auch seltener krank als noch vor wenigen Monaten, als sie im SOS-Kinderdorf in Gulu im Norden Ugandas ankam. Die Kleine hat in ihrem kurzen Leben schon fast alles verloren. Der Vater starb als Soldat bei einem Friedenseinsatz in Somalia, ihre Mutter an Aids. Da war Sofi noch keine drei Jahre alt. Ihre Tante, selbst gerade mal 15, kümmerte sich dann zunächst um Sofi und ihre drei Jahre ältere Schwester. Doch irgendwann ging es nicht mehr weiter. Die beiden Mädchen können sich glücklich schätzen, dass sie im Kinderdorf aufgenommen wurden. Denn Aids und ein Bürgerkrieg haben unzählige Kinder zu Waisen gemacht. Nicht wenige landen auf der Straße.

Uganda ist kein Einzelfall. Fast überall in Afrika werden zaghafte Entwicklungsfortschritte durch immer neue Rückschläge bedroht. Durch Kriege, Dürren, Krankheiten. Das von der Internationalen Gemeinschaft anvisierte Ziel, bis 2015 die Zahl der Hungernden und der Armen zu halbieren, wird in Afrika nicht erreicht. Dabei hat Ugandas Präsident Yoweri Museveni vieles richtig gemacht. Als einer der ersten afrikanischen Staatschefs sprach er offen über die Gefahren von Aids. Afrika ist weltweit am schwersten von der Epidemie betroffen, zwei Drittel aller mit dem tödlichen HI-Virus infizierten Menschen, mehr als 20 Millionen, leben südlich der Sahara. Viele Länder haben einen Großteil ihrer wirtschaftlich aktiven Bevölkerung verloren. Uganda gelang es zwar zeitweise, durch massive Aufklärung die Neuinfektionen zu verringern, doch inzwischen hat der Elan nachgelassen und die Zahlen steigen wieder.

Die Lebenserwartung der Menschen in Afrika südlich der Sahara ist durch Aids deutlich gesunken. In Uganda beträgt sie nun etwa 54 Jahre. Die Geburtenrate ist aber gleichzeitig weltweit eine der höchsten. Im Durchschnitt bekommt jede Frau sechs Kinder. Die Bevölkerung wächst jedes Jahr um rund drei Prozent, in gut 20 Jahren verdoppelt sie sich. Seit die Regierung 1997 den kostenlosen Schulbesuch garantiert hat, gehen praktisch alle Kinder zur Schule. Doch ihre Perspektiven bleiben schlecht, denn es gibt kaum qualifizierte Jobs. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in absoluter Armut, weniger als die Hälfte hat Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen, sprich Toiletten. So paradox es klingt: Die kleine Sofi wächst nun in vergleichsweise komfortablen Verhältnissen auf: Sie lebt in einem richtigen Haus, hat ihr eigenes Bett und wenn sie doch wieder einmal krank wird, geht ihre Pflegemutter mit ihr in die Krankenstation des SOS-Dorfes.

Zehn Kinder sind sie in Sofis neuer Familie – für ugandische Verhältnisse fast schon normal. In einem Land, in dem die meisten Menschen von der eigenen Landwirtschaft leben, bringt der Bevölkerungszuwachs aber eben auch große Probleme mit sich. Denn Uganda ist zwar sehr fruchtbar, mit jeder neuen Generation werden die Ackerflächen aber weiter aufgeteilt und damit immer kleiner. Für die meisten Eltern wird es von Jahr zu Jahr schwieriger, ihre Kinder gut zu ernähren.

Doch nicht nur wirtschaftliche und soziale Sorgen plagen Uganda. Im Norden kämpfte fast zwei Jahrzehnte die sogenannte Lord’s Resistance Army für einen Staat mit christlich-fundamentalistischem Antlitz. Mit ihrer kruden Ideologie rechtfertigte die Gruppe sogar die Entführung von Kindern, die dann als Soldaten gedrillt in ihrem Namen Dörfer überfielen und brutal mordeten. Inzwischen herrscht offiziell Frieden, doch Kämpfer der Rebellen treiben sich noch im Nachbar- und Dauerkriegsland Kongo herum. Im Norden Ugandas leben sie daher weiter in Angst, ohne Mut für einen Neuanfang. Die befreiten Kindersoldaten werden psychologisch betreut, die meisten bleiben aber wohl ein Leben lang traumatisiert. Sofi immerhin erholt sich einigermaßen gut von den Erlebnissen ihrer ersten Lebensjahre. „Sie ist inzwischen sehr lebhaft. Ich glaube, sie könnte ein zufriedener Mensch werden“, sagt SOS-Kinderdorfleiter Charles Kiyimba. Ulrike Scheffer

Lesen Sie auf Seite vier mehr darüber, wie es ist, in den USA aufzuwachsen.

USA

Einen Porsche besitzt Leo bereits. Nach einem kräftigen Stoß des Kinderfäustchens saust der feuerrote Wagen über den Couchtisch und stürzt, als er die Kante erreicht, auf den Teppichboden. Leo jauchzt vor Begeisterung und klatscht. Ob Spielzeugunfall oder Wirtschaftskrise: Bisher bereitet der Alltag dem 18 Monate alten Amerikaner keine großen Sorgen. Er hat ein warmes Zuhause und ist gesund, das sieht man sofort. Auch hungern muss er nicht, eher wird er später einmal darauf achten müssen, dass er kein Übergewicht bekommt – so wie 40 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in den USA.

Leos Eltern, Peter und Laura Morreales, beschäftigt vor allem die Frage, ob das uramerikanische Versprechen noch gilt, dass die Kinder es in der Regel besser haben werden als die vorhergehende Generation. Die Morreales gehören zur weißen Mittelschicht und leben in Washington. Beider Großeltern waren aus Europa eingewandert. In Peters Fall kamen sie aus Sizilien nach New York, lebten von körperlicher Arbeit und ermöglichten so Peters Vater ein Chemiestudium. Peter konnte Jura studieren, ein weiterer Aufstieg, mehr Prestige und mehr Einkommen. Lauras Großeltern waren Landarbeiter in den französischen Alpen, ehe sie nach Texas emigrierten. Ihre Eltern absolvierten das College; Laura ist die Erste in der Familie, die ein Masterstudium abgeschlossen hat.

Auch Leos 15-jährige Schwester Olivia macht sich so ihre Gedanken. Sie glaubt, dass es „schwerer wird, unsere Träume zu erfüllen, je mehr Menschen in Amerika leben“. Nach wie vor wollen Menschen aus aller Welt in die USA einwandern. Zudem ist die Geburtenrate deutlich höher als in Deutschland. Heute leben 312 Millionen Menschen in den USA. 2000 waren es 281 Millionen. Der Anteil der nicht weißen Minderheiten wächst. In wenigen Jahren werden sie zusammen genommen die Mehrheit bilden. Die am schnellsten wachsende Gruppe sind die Latinos: Einwanderer aus Mexiko, Mittel- und Südamerika sowie ihre Kinder. Die wenigsten sind gut ausgebildet und haben daher kaum Chancen auf einen guten Job.

Leos Aussichten, als Erwachsener einen höheren Lebensstandard als seine Eltern zu erreichen, sind ebenfalls begrenzt – aus zweierlei Gründen. Erstens geht es den Morreales bereits vergleichsweise gut. Nach Ausbildung und Vermögen gehören sie zum oberen Viertel der US-Gesellschaft. Wer noch höher hinaus will, hat es schwer. Zweitens stagnieren die Haushaltseinkommen in Amerika seit längerem. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie bis zum Jahr 2000 in jedem Jahrzehnt um einen zweistelligen Prozentsatz gewachsen. Mit dem schärfer werdenden globalen Wettbewerb im neuen Jahrtausend, den Folgen des Terrorangriffs 2001 und zwei Kriegen sanken sie erstmals, von 52 301 Dollar 2000 auf 49 777 Dollar 2009. Jeder sechste Amerikaner ist heute arm, noch mehr haben keine Krankenversicherung. Und mit der aktuellen Wirtschaftskrise verschärft sich die Lage. Laut einer Bloomberg-Umfrage von Juni 2011 glauben 55 Prozent, dass ihre Kinder den heute üblichen Lebensstandard nicht werden halten können.

Leos ältere Geschwister – Olivia (15), Max (13), Gabriella (10) – haben miterlebt, wie die Wirtschaftsentwicklung das Familienleben beeinflussen kann. Ihr Vater Peter war auf dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise einige Monate arbeitslos. Die Morreales verkauften eines ihrer Autos, diskutierten den Umzug nach Texas, wo die Jobaussichten besser zu sein schienen. Die Urlaubsreisen wurden gestrichen. Auch bei den Sport- und Freizeitaktivitäten der Kinder wurde gespart. Zwischendurch arbeitete Peter bei Fannie Mae, einem Immobilienkonzern im Staatsbesitz, was ihm wenig Freude bereitete. Nun hat er eine für ihn befriedigende Anstellung bei der Investmentbank Goldman Sachs in New York gefunden. Nächsten Sommer, wenn das Schuljahr zu Ende ist, zieht die Familie hinterher.

Die Erfahrungen der jüngsten Jahre haben die Kinder nachdenklich gemacht. „Wir sehen in der Nachbarschaft, was mit Erwachsenen in der Krise passiert“, sagt Gabriella. Max überlegt, ob der Wohlstand, in dem Kinder in den USA aufwachsen, am Ende in einen Nachteil im Wettbewerb um die besten Zukunftschancen umschlagen könnte. „Wir haben Computer. Unsere Schulen sind gut ausgestattet. Wir müssen uns nicht sehr anstrengen, um Wissen zu sammeln. Kinder in ärmeren Ländern müssen viel härter arbeiten. Vielleicht werden sie dadurch leistungsfähiger als wir.“ Christoph von Marschall

Lesen Sie auf Seite fünf mehr darüber, wie es ist, in Mexiko aufzuwachsen.

Mexiko

„Das ist ein Herz für meine Mami“, sagt Angel und zeigt stolz auf eine Collage aus rotem Krepppapier. Und dann kommt dem Vierjährigen noch eine glänzende Idee. „Das sind die Füße“, beschließt er, und malt flugs zwei krakelige schwarze Striche daneben. „Damit kann es zu meiner Mami laufen.“ Der Knirps mit dem Borstenschnitt freut sich diebisch über seinen Geistesblitz, stellt das Papier auf die Kante und lässt es über den Tisch hüpfen. Seit zwei Jahren ist er von Montag bis Freitag durchgängig in der Kinderkrippe Casa-Cuna in der zentralmexikanischen Stadt Querétaro. Angels Mutter Gloria arbeitet im Wachdienst einer Käsefabrik, muss morgens um sieben aus dem Haus und kommt nicht vor 19 Uhr zurück. Ihr Mann ist ein drogensüchtiger Schürzenjäger. Weil er sie oft verprügelte, flüchtete die 20-Jährige mit ihren zwei Söhnen zurück in ihr Elternhaus – ein halbfertiger, unverputzter Betonbau weit vor den Toren der Stadt. Ein typisches Arbeiterviertel. „Ich will für meine Kinder ein besseres Leben“, sagt sie.

So wie Angel geht es vielen Kindern in Mexiko. Die Zahl der Alleinerziehenden ist innerhalb von zehn Jahren stark gestiegen, mittlerweile wächst fast jedes zehnte Kind in Mexiko ohne Vater auf. Doch Angel und sein Bruder haben heute zumindest rein statistisch gesehen bessere Chancen auf Bildung und Gesundheitsfürsorge. Waren in der Elterngeneration noch fünf bis sechs Kinder Durchschnitt in einer Familie, sind es heute noch knapp über zwei – also fast Verhältnisse wie in den Industriestaaten. Die Geburtenrate ist zwar gesunken, durch Fortschritte im Kampf gegen die Kindersterblichkeit und durch eine gestiegene Lebenserwartung ist die Bevölkerung aber weitergewachsen, und zwar von 97 Millionen im Jahr 2000 auf 112 Millionen 2010. „Das bringt enorme Herausforderungen für unser Sozialsystem“, warnt Präsident Felipe Calderón. Noch ist Mexiko allerdings weit entfernt von europäischen Verhältnissen: Das Durchschnittsalter liegt bei 29 Jahren, auf zwei Personen im arbeitsfähigen Alter kommt nur ein Rentner oder ein Minderjähriger, der versorgt werden muss.

Auch sonst wird Mexiko seinem Ruf als aufstrebendes Schwellenland gerecht. Inzwischen verfügen 98 Prozent aller Mexikaner über Strom. Die Zahl derjenigen, die ein Telefon besitzen, stieg in den vergangenen zehn Jahren von 36 auf 43 Prozent, bei Computern stieg der Besitzstand von neun auf 29 Prozent, bei Kühlschränken von 68 auf 82 Prozent und bei Autos von 32 auf 44 Prozent. Die Zahl der Analphabeten sank dagegen von 12,4 auf 6,9 Prozent; heute besuchen 40 Prozent der zwischen 15- und 24-Jährigen eine weiterführende Schule, während es früher nur 30 Prozent waren. Sichtbar ist der Fortschritt allenthalben: Die Städte sind enorm gewachsen, überall entstehen Reihenhaussiedlungen und Einkaufszentren für die aufstrebende Mittelschicht. Die Mexikaner reisen mehr, gehen häufiger ins Restaurant, Kino und Museum, geben ihr Geld für Sport und ihre Freizeitgestaltung aus.

Mexiko stellt mit Carlos Slim zwar den reichsten Mann der Welt, aber noch immer sind 40 Millionen Menschen arm, 15 Millionen leben sogar in absoluter Armut und haben weniger als einen Dollar am Tag zur Verfügung. Die soziale Schere ist enorm weit, die Gehälter sind seit der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada 1994 weniger gestiegen als die Inflation. Ein Drittel der Mexikaner verdient monatlich weniger als umgerechnet etwa 80 Euro. Hunderttausende versuchen daher noch immer jedes Jahr, über die Grenze in die USA zu gelangen, wo die Löhne ein vielfaches betragen.

Herkunft und Bildung sind entscheidend dafür, ob Angel der soziale Aufstieg gelingen wird. Die Voraussetzungen waren nicht günstig, der Junge ist ein schweigsames Sorgenkind mit Alpträumen. Doch seit er in der kirchlichen Kinderkrippe ist, die von den Sternsingern mitfinanziert wird, ist Angel aufgeblüht. „Er erzählt von seinen Freunden und was er alles gelernt hat“, freut sich Gloria. Staatliche Kleinkinderbetreuung gibt es in Mexiko kaum. Für die Mutter ist es eine große Beruhigung zu wissen, dass ihr Sohn gut betreut wird und ihm nun vieles geboten wird, was sie ihm aus eigener Kraft niemals geben könnte. Nun hofft Gloria, dass es auch für Angels drei Jahre jüngeren Bruder Eduardo bald einen Krippenplatz gibt. Sandra Weiss

Lesen Sie auf Seite sechs mehr darüber, wie es ist, in Deutschland aufzuwachsen.

Deutschland

Gedankenverloren schaut Fabian Noel Luczak den Seifenblasen in seinem Zimmer hinterher. Nichts um ihn herum nimmt der Junge noch wahr, nur die glitzernden Blasen. Im Dezember wird der fröhliche Junge mit den großen blauen Augen zwei Jahre alt. Seine Eltern Susanne Ring und Florian Luczak sind beide berufstätig und verdienen gut. Ein eigenes Zimmer, Spielzeug und viel Zuwendung – Fabian fehlt es an nichts. Außer an Geschwistern. Wie jedes vierte Kind in Deutschland ist er ein Einzelkind.

Doch im Laufe seines Lebens wird Fabian vielleicht auch verzichten müssen. „Der Junge wächst in einer maroden und hochverschuldeten westlichen Welt auf; in einer Gesellschaft der schwindenden Ressourcen“, sagt Ole Wintermann, Leiter eines Zukunftsforschungsprojekts der Bertelsmann Stiftung. Der Wohlstand bröckelt. Demografische Veränderungen und die Globalisierung werden junge Menschen in Deutschland vor große Probleme stellen.

Bildung, sagt Zukunftsforscher Wintermann, werde in Zukunft immer wichtiger. Das wissen Fabians Eltern. Auch wenn er noch lange nicht in die Schule geht, befassen sie sich jetzt schon mit dem Thema – zumindest gedanklich. Susanne Ring und Florian Luczak sind nicht überehrgeizig. Fabian besucht keine Englisch- oder Yogakurse. Und auch die Schule hat noch viel Zeit. „Es wäre furchtbar, wenn er zu früh dem Leistungsdruck ausgesetzt würde“, sagt Fabians Mutter. Um trotzdem gut vorbereitet zu sein, besucht der Kleine jeden Tag eine Kindertagesstätte in Berlin-Moabit – zusammen mit Kindern aus 32 Ländern. Der Stadtteil gilt als sozial schwach, der Anteil der Bewohner mit Migrationshintergrund liegt bei 25 Prozent. Viele Schulen haben einen schlechten Ruf. Fabians Eltern sind sich einig: Sie werden die Schule sorgfältig auswählen und notfalls dafür bezahlen. Auch für die weitere Zukunft ist gesorgt. Monatlich legen die Eltern und die Großeltern Geld beiseite, um so ein mögliches Studium und ein Auslandsjahr zu finanzieren. „Wir wollen unserem Sohn alle Möglichkeiten offenhalten und ihm den Weg nach oben öffnen“, sagt sein Vater.

Ob die berufliche Realität, die Fabian kennenlernen wird, noch der seiner Eltern entspricht – Zukunftsforscher Ole Wintermann ist skeptisch. Der Arbeitsmarkt und das Konzept der sozialen Marktwirtschaft werden sich seiner Ansicht nach stark verändern. Klassische Arbeitsverhältnisse, so wie man sie heute noch kennt, werde es künftig nicht mehr geben. Flexibilität und Selbstständigkeit werden gefragte Qualifikationen sein. Festanstellungen werden seltener, die Arbeitsverhältnisse unsicherer. „Man muss zum Manager seiner selbst werden“, sagt Wintermann. Und das wahrscheinlich ein Leben lang, denn bei einer ständig schrumpfenden und alternden Gesellschaft wird Fabian kaum mit 67 in Rente gehen können.

2060 werden in Deutschland voraussichtlich deutlich weniger als 70 Millionen Menschen leben. Migranten würden daher immer wichtiger für das Land, sagt Wintermann. Und die bringen andere Lebensformen mit. „Aber das wird auch zu anderen Wertesystemen führen.“ Soziale Spannungen könnten die Folge sein. Und auch zwischen den Jungen und den Alten könnte es verstärkt zu Interessenskonflikten kommen: Heute sind 20 Prozent der Bevölkerung älter als 65 Jahre. Im Jahr 2060 wird jeder Dritte älter als 65 sein – jeder Siebente wird sogar die 80 überschreiten. Besonders im Gesundheitsbereich werden daher neue ethisch-moralische Grundsätze zu definieren sein. Die Gesellschaft werde sich verstärkt fragen, was man zu tragen bereit sei, sagt Wintermann. Die jetzt Geborenen liefen zudem Gefahr, auf der Strecke bleiben, „denn wir konsumieren im Moment unsere Vorsorge“, sagt der Zukunftsforscher.

Damit Fabian möglichst wenig belastet wird, legen seine Eltern auch für sich selbst Geld zurück. „Fabian soll uns im Alter nicht unterstützen müssen“, sagt sein Vater Florian. Auch seiner Mutter Susanne ist es wichtig, dass ihr Sohn nicht finanziell für sie einstehen muss. „Wir wollen, dass er sein Geld behalten und sich damit dann sein eigenes Leben und seine eigene Familie finanzieren kann.“

Vieles von dem, was Fabian erwartet, klingt nach einem Abstiegsszenario. Deutschland, so wie man es kennt, wird es in 50 Jahren wohl nicht mehr geben. Ob Fabian darunter leiden wird, bleibt abzuwarten. Er selber wird es sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen können, wie es war, als die Menschen weitgehend versorgt und abgesichert waren. Wahrscheinlich werden diese neue Welt und ihre Möglichkeiten für ihn einfach nur eine Selbstverständlichkeit sein. Anna-Sophie Sieben

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