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Der Schatten eines Mannes ist am 7. November 2009 neben dem letzten erhaltenen Gitterfenster des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau in der heutigen Gedenkstätte in Torgau zu sehen.

© picture alliance / dpa

Jugendwerkhof Torgau: Am Ende eine perfekte Untertanin

„Die Hölle von Torgau“: Kerstin Gueffroy beschreibt ihre Jugend in dem DDR-Erziehungsheim. Eine Rezension.

Der Staat war da, als Kerstins Mutter die Geduld mit ihrer Tochter verlor. Das Mädchen wirkte in der Schule unkonzentriert und labil, zu Hause nervte es mit seiner nicht altersgemäßen Bettnässerei. Da war staatliche Hilfe gefragt: „Als ich neun Jahre alt war, endete die Geduld meiner Mutter erstmals, sie ließ mich in die psychiatrische Kinderklinik Berlin-Herzberge einweisen, um endlich die Funktionsstörung ihres Kindes reparieren zu lassen.“ Das war 1976. Für Kerstin Kudzia (ihr Mädchenname), eins von vier Kindern in einer Ost-Berliner Arbeiterfamilie, begann eine Odyssee durch Jugendeinrichtungen des sozialistischen Staats, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Sie erlebte den in der DDR vieltausendfach gemachten Versuch, Persönlichkeiten zu zerstören, um sie gefügig zu machen. Alles so lange her? Für manche Menschen nicht.

Mit 18 wird sie aus staatlicher Zwangsobhut entlassen

„Die Hölle von Torgau“ ist ein gleichermaßen erschütterndes wie spannendes Buch. „Ja, ich war unruhig, ein richtiger Zappelphilipp. Wäre ich in der heutigen Zeit aufgewachsen, würde mir vermutlich irgendein Arzt Ritalin verschreiben, nachdem er ADHS diagnostiziert hat“, heißt es am Anfang dieser Lebensgeschichte, die eine geschundene Frau gemeinsam mit dem Autor Carsten Tergast zu Papier gebracht hat. In der DDR hatte sich der Staat für zuständig erklärt für die Behandlung schwieriger Kinder. Seine Methoden sind mit dem Begriff „schwarze Pädagogik“ nicht wirklich beschrieben. In Einrichtungen wie dem „Spezialkinderheim Pretzsch an der Elbe“ oder den Jugendwerkhöfen Hummelshain und Torgau wurden Jugendliche so gefügig gemacht, dass man sie im sozialistischen Staat später verwenden konnte. Als Kerstin Kudzia mit achtzehn Jahren aus der staatlichen Zwangsobhut entlassen wird, als sie eine Wohnung und Arbeit in einer Werkskantine in Berlin zugewiesen bekommen hat, bringt sie das perfekt auf den Punkt: „Die tägliche Schicht, die klare Aufgabenverteilung und die Hierarchie im Betrieb, all das gab mir die Orientierung, die ich durch die Jugendwerkhofzeit gewöhnt war. Genau diese Orientierung brauchte ich, und letztlich zeigt sich hier, dass ich genau so aus der Jugendzeit herausgekommen war, wie der Staat sich das wünschte: unselbständig, leicht zu lenken und im Sinne der industriellen Produktion einsetzbar.“

Eine perfekte Untertanin eben, geformt durch ein autoritäres System, das Erziehung durch Herrschaft und Willkür ersetzte, das mit Anschreien, körperlicher Demütigung und Dressur funktionierte. Kerstin Gueffroy meinte, das alles hinter sich gelassen zu haben, als die DDR untergegangen war, auch wenn sie, wie sie schreibt, das System und seine Repräsentanten „nicht hassen“ konnte. Dann holte „Torgau“ sie wieder ein. Warum – das hat sei bedrückend anschaulich beschrieben.

Kerstin Gueffroy: Die Hölle von Torgau. Wie ich die Heim-Erziehung der DDR überlebte. Orell Füssli, Zürich 2015. 224 Seiten, 19,95 Euro.

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