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Collonil-Chef Becker: Der Polierer von Reinickendorf

Einmal im Jahr, am Nikolaustag, kommt es wirklich drauf an: Die Schuhe müssen glänzen. Frank Beckers Schuhe glänzen immer. Denn der „Unternehmer des Jahres“ stellt Schuhputzmittel her. Und er findet, dass Pflege wahrer Luxus ist.

Der Zustand der Schuhe, das erklärte die Mutter ihrem Sohn schon früh, sage viel aus über einen Menschen. Und sie lehrte ihn, sein Schuhwerk ordentlich zu putzen. Erst säubern mit Bürste oder Tuch, das kann auch feucht sein. Trocknen lassen. Dann die Creme mit ruhigen Bewegungen einmassieren, immer ein bisschen dunkler als der Schuh, denn als Creme wirkt die Farbe heller. Einwirken lassen. Und danach mit einem weichen Tuch polieren, für den Glanz.

Noch heute putzt der Sohn, wie von der Mutter aufgetragen, und deshalb kann er an jedem beliebigen Arbeitstag die Beine unter seinem Bürotisch durchstrecken und an den Füßen glänzen Schuhe, die zwölf Jahre alt sind. Englische Schuhe, schwarz und aus Leder mit feinem Lochmuster an der Spitze. „Immer brav geputzt!“, sagt er. Elegant sind sie und bequem. Passend auch zum grauen Businessanzug. Denn der Sohn ist heute Manager, Geschäftsführer einer Schuhputzmittelfirma.

Und was seine Mutter ihm einst beibrachte, findet sich heute auf deren Homepage: der Schuhpflegeknigge. Säubern, cremen, einwirken lassen, polieren. Schuhe pflegen ist wieder in. Nicht nur, weil heute Nikolaus ist und der Brauch nach geputzten Schuhen vor der Haustür verlangt, auf dass die zu nächtlicher Stunde schon mit Nüssen, Schokolade, Lebkuchen befüllt worden sind.

Der Mann mit den geputzten Schuhen ist Frank Becker, 49 Jahre alt, Vater von vier Kindern, gebürtig in Bremerhaven, von Berufs wegen Diplomkaufmann und spezialisiert darauf, Sanierer zu sein. In Portugal war er tätig und bei BASF, und seit 1998 hat er ein schlichtes Büro in Berlin, in einer alten Propellerfabrik im eher langweiligen Nordwesten der Stadt, Reinickendorf. Bei der Firma Collonil, was vom französischen Verb coller für kleben kommt. Und ein bisschen klebt auch Becker. Collonil ist das erste Unternehmen, bei dem er auch nach der Sanierung geblieben ist. Als sei es ihm der sprichwörtliche alte Schuh geworden, in dem es sich am besten geht.

Lange Zeit hätten die Leute es sich einfach gemacht, sagt nun Frank Becker. Hätten billig Schuhe gekauft, niedergelatscht und weggeworfen, aber die Zeiten haben sich geändert, sagt er auch: Heute kaufen die Leute nicht mehr Schuhe, sondern … Er springt auf. Herr Becker?

Der läuft zu einer Vitrine, kommt zurück, die Arme voller Cremes, Dosen und Bürstchen aus Ziegenhaar, keine gewöhnlichen Ziegen, nein, besondere Ziegen aus dem Westjordanland, deren Haare weicher sind und die Schuhe streicheln. Becker fährt sacht mit der Hand über die Borsten und schaut dabei, als habe er sich selbst beschert, dann öffnet er eine der Cremes, geleeartiges Rot kommt zum Vorschein, süßlich-herb der Duft, Becker saugt ihn ein, sagt: „Zedernöl“ und verharrt eine Sekunde.

Das Gefühl, weiches Leder in der Hand zu halten, mit einer weichen Bürste zu bearbeiten, den Schuh zu fühlen und zu riechen, ihn aus seiner Nutzfunktion für einen Moment herauszuholen und dabei zu wissen, dass diese Beziehung jetzt noch etwas länger hält, nennen Becker und seine Leute „Performance“.

Kein schönes Wort. Zu modern dafür, dass es ums Altern geht. Aber im Schuh, der mit den Jahren unschön, aber immer bequemer wird, spiegelt sich ein grundsätzlicher Konflikt wider. Der von Sein und Schein, von Wert und bloßem Eindruck. Und deshalb, sagt Becker in Erweiterung des mutterschen Diktums vom Schuh, der seinen Träger verrate, könne man vom Schuhverhalten des Menschen ein bisschen auf die ganze Gesellschaft schließen: Will sie zeigen, was sie hat, oder reicht es ihr, zu wissen, was sie hat.

Um die Deutschen noch mehr zu stillen Wertschöpfern zu machen, wird viel dafür getan, das Schuheputzen aufzuwerten. Edle Produktlinien gibt es, hochtechnische, demnächst kommt noch eine biologisch-organische. Freude soll aufkommen, beim Schuhe rausstellen, die guten Utensilien dazuholen und losputzen, sich beschäftigen mit seinem Besitz, ihn bearbeiten, formen, ihm beim sich verformen beobachten. Gute Pflege schafft gute Beziehungen – und das ist Luxus.

Die Abteilung, in der die „Performance“ vorangetrieben wird, liegt ein paar Meter von Beckers Büro entfernt, einen langen Gang entlang, der zu kleinen Hallen mit großen Edelstahlkesseln führt. Hier, in der Produktion, werden Cremes und Schäume zusammengemischt, Farben abgestimmt. In Handarbeit. Ein Mitarbeiter steht da mit einer Farbschablone in der einen und einer Tube in der anderen Hand und nähert sich tröpfchenweise der gewünschten Nuance an. Seit 30 Jahren arbeitet er an dieser Stelle, für die es Fingerspitzengefühl braucht. Eine Winzigkeit Rot auf 60 Liter Dunkelblau kann entscheidend sein. Die Farben heißen dann „Jeans“ oder „Kiesel“, es gibt Modefarben für den Winter, für den Sommer, die Saison. Es ist wichtig, sagt Becker, flexibel zu bleiben.

Es hat die Firma gerettet. Sie hat sich weder an einen Ort gekettet, noch an ein Produkt, noch an einen Namen. Nicht mal, dass sie Tradition hat, sieht man ihr heute an.

1909 war es, da füllten die Brüder Paul und Walter Salzenbrodt in ihrer Kreuzberger Küche schwedisches Lederöl aus großen Fässern in kleine Fläschchen, die sie verkauften. Drei Jahre später stiegen sie in die Schuhputzbranche ein, erster Bestseller wurde ein wasserabweisendes Mittel, sie zogen in eine große Fabrik nach Mühlbeck, bald warb Marlene Dietrich für die Firma. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag das Unternehmen auf DDR-Gebiet und wurde enteignet. Die Salzenbrodts bauten im Westteil der Stadt die Produktion wieder auf. Heute arbeiten in Deutschland 135 Mitarbeiter für Collonil, 180 weltweit.

Bis 1998 lag die Geschäftsführung immer fest in der Hand eines Familienmitglieds, dann ging der Nachwuchs aus – und Frank Becker kam dazu, Optimist und Teammensch, 2010 zu Berlins „Unternehmer des Jahres“ gekürt. Gegen die Konkurrenz der Billigproduzenten setzte er auf Expansion – mehr Produkte, mehr Export. Mehr als 50 Prozent der Ware gehen ins Ausland, mehr als 100 Länder werden beliefert, von Portugal bis Japan. Sie haben das Sortiment ausgeweitet. Zwei von drei der insgesamt 700 Collonil-Artikel sind jünger als vier Jahre. Die Schuhputzexperten verkaufen nun auch Socken, Schnürsenkel und Pflegemittel für die Auto- und Flugzeugindustrie.

Es hat sich ausgezahlt, seit Jahren wächst der Umsatz schon. 15 Prozent Plus gab es allein im Krisenjahr 2009. Aber das Kerngeschäft, sagt Becker, liegt noch heute in Deutschland. Und noch immer bei den Schuhen.

Becker lässt Schuhverkäufer in ganz Deutschland schulen, damit sie „Ich empfehle Ihnen“ statt „Wollen Sie vielleicht?“ sagen und der Kunde sich den angepriesenen Pflegeprodukten beim Schuhkauf nicht durch ein einfaches „Nein“ entziehen kann. Auch solche Sachen gehören zum Erfolg. Collonil ist in Deutschland Marktführer – im Fachhandel, wo die Leute Hochwertiges kaufen, während sie im Supermarkt zu den Billiganbietern greifen. Collonil ist auch Preisführer, sie verkaufen die teuersten Produkte. Anders, sagt Becker, könnte man den Standort Berlin nicht halten. Und halten will er ihn.

In der Produktionsabteilung ist Ulrich Drechsler Chef, ein promovierter Chemiker. In Anzug und Krawatte schleppt er die Gerüche kistenweise heran, kleine Flacons mit Zitronenminze, Sandelholz, Olive. Jeder Duft, mit dem die Cremes und Schäume parfümiert werden, setzt sich zusammen aus mehreren Zutaten, ein wenig Rosenholz hier, ein bisschen Bittermandel da. „Unseren größten Schatz“ nennt Drechsler die Produkt-Rezepte, die auf DinA4-Blättern notiert und in großen Ordnern abgeheftet sind. Streng geheim.

Die Duftöle, erklärt Drechsler, seien besonders wichtig dafür, ob eine Bindung zwischen Schuh und Mensch entstehe. Zedernöl etwa gehört zu den holzigen Düften, ein männlicher Duft also, der nach Autositzen riecht. Fruchtige Düfte, Orange oder Grapefruit, gelten als eher weiblich besetzt, sie riechen nach Cocktail, nach Sommer und Sorbet. Und dann gibt es die aquarischen Düfte. Sie sollen einfach nach sauberen Füßen riechen.

„Jeder Geruch soll etwas transportieren“, sagt Drechsler. Und Becker assistiert: „Wenn Sie das auftragen“, sagt er, „ist das wie Kosmetik. Danach haben Sie eine ganz andere Beziehung zu Ihrem Schuh.“

Die ist von Land zu Land so unterschiedlich wie das regionale Temperament. In Russland begeistern die Menschen sich schnell, aber nur für kurze Zeit. Hier muss Collonil das Sortiment besonders oft wechseln. In den arabischen Ländern geht es den Käufern weniger um die Pflege als um den Schein, hier gehen Selbstglanzmittel gut, auf der Packung beworben von blonden Frauen. In Italien geben die Leute für Schuhe und Nahrung gleich viel aus, egal, wie lange sie etwas davon haben. Die Deutschen sind anders.

Den flüchtigen Genuss lassen sie sich ungern viel kosten, sie sparen bei Lebensmitteln und investieren in Haltbarkeit. In Autos. Und in Schuhe. Auch in Schuhpflege, weil die Leute eine Beziehung zu den Dingen entwickeln, sie lieb gewinnen und erhalten wollen. Je nach Pflege und Beanspruchung lässt sich ein Schuhleben durch Pflege um manchmal zehn, zwanzig Jahre verlängern.

In Deutschland muss Collonil das Sortiment nicht so oft austauschen. Die Leute bleiben bei ihrem Produkt.

Im November stellte der Künstler Dawit Shanko in den Potsdamer Platz Arkaden Schuhputzboxen aus. Äthiopische Kinder hatten sie im Rahmen einer Aktion des Vereins „Listros“ nach Deutschland geschickt, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, Jungen und Mädchen, die sich ihr Schulgeld verdienen, indem sie anderer Leute Schuhe putzen. Studenten hatten die Aktion betreut und wagten einen Selbstversuch: Sie setzten sich mit den Boxen in deutsche Fußgängerpassagen und boten den Passanten ihre Dienste an. Die Reaktionen waren stets die gleichen: irritierte Blicke, Zurückzucken. Verlegenheit.

Becker hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Hin und wieder wurden Collonil-Vertreter eingeladen, um in Kaufhäusern oder Bahnhöfen Schuhe zu putzen. „In Deutschland läuft das nicht“, sagt Becker. „Da bückt sich jemand und sitzt zu Füßen. Da denken die meisten sofort an Sklavenarbeit.“ In Deutschland gelte: Luxus ist, wenn man selber putzt.

Carina Braun

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