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Junge Männer campieren auf dem Fußweg vor einem Gebäude auf Matratzen.

© imago/Chokri Mahjoub

Studierende in Tunesien: Hoffnungslos begeistert für die Demokratie

Studierende und Hochschulabsolventen in Tunesien sind begeisterte Demokraten. Aber die Hoffnungslosigkeit bleibt, jeder dritte hat keine Arbeit. Ein Gastbeitrag.

Mohammed Kerrou steht an der Universität El Manar in Tunis vor seinen Studierenden. Er ist Zeitzeuge der „Jasminrevolution“ von 2010/11 und einer der prominentesten lokalen Forscher zur Transformation der arabischen Welt. Was bleibt sechs Jahre später von der Revolution? „Die Meinungsfreiheit. Wir haben hier Möglichkeiten in der Forschung, die wir vor wenigen Jahren nicht hatten“, sagt Kerrou. Der Hörsaal ist bis auf den letzten Platz gefüllt, aufmerksam scheinen die Studierenden zuzuhören. Demokratie, Zivilgesellschaft, neue politische Ordnung im Maghreb stiften lebendige Diskussionen. Doch die scheinbar gelöste Stimmung trügt.

Yassin, 22, wird sein Sozialwissenschaft-Studium im Sommer abschließen. Er will in der Wissenschaft bleiben oder an oder bei einem Ministerium arbeiten – mit einer Gehaltsaussicht die in Deutschland einer Praktikumsentschädigung entspricht. Doch die hohe Arbeitslosigkeit im Land lässt ihn selbst daran zweifeln. Kerrou nickt: „Das Frustrierende ist, dass viele der Auslöser der Aufstände von vor sechs Jahren immer noch existieren.“ Angesichts hoher Arbeitslosigkeit und mangelnder Reformen reagierten auch die engagiertesten Studierenden deprimiert, wenn sie nach fünf Jahren Universität ohne Perspektive sind.

Auf dem holprigen Weg zur Demokratie

In einem Land, in dem knapp die Hälfte der Bevölkerung unter 40 Jahre alt ist, braucht es Hoffnung. Seit dem Ende der Ben-Ali-Diktatur 2011 befindet sich Tunesien weiter auf dem holprigen Weg zur Demokratie. Dabei schlägt sich Afrikas nördlichster Staat beeindruckend gut, betrachtet man die Instabilität seiner Nachbarn. Doch wie fragil die Lage in Tunesien ist, zeigt ein Blick in die Statistiken: 15,6 Prozent beträgt die landesweite Arbeitslosigkeit, bei den 15- bis 29-Jährigen sind es laut Weltbank gar 31,8 Prozent. Und obwohl viele junge Tunesier Abschlüsse an den nationalen Unis erreichen, beträgt die Arbeitslosenquote unter jungen Graduierten 31,6 Prozent, bei den Frauen sind es sogar 41,6 Prozent.

Einer aktuellen Studie des EU-geförderten Sahwa-Projektes zur Jugendforschung zufolge sind die jungen Tunesier gleichzeitig demokratiebegeistert und erschüttert und enttäuscht von der Politik ihres Landes. Wille zu politischem Engagement besteht durchaus: 64 Prozent der Graduierten haben an den letzten Parlamentswahlen teilgenommen. Gleichzeitig sind mangelnde Perspektiven die größte Sorge der Tunesier: 36 Prozent nannten Jobs als wichtigstes Problem des Landes, weit vor Terrorismus (18 Prozent) und der grundsätzlichen wirtschaftlichen Lage (15 Prozent).

Fördergelder gehen meist an der Provinz vorbei

Besonders gravierend sind die regionalen Disparitäten: Universitäre Bildung, Projekte, Fördergelder konzentrieren sich auf die Küstenregion um die Metropolen Tunis, Bizerte, Sousse und Sfax. Dort wird mit EU-Geldern in die arg dezimierte Tourismus-Industrie, in lokale Entwicklungsprojekte investiert. Die gut sichtbaren Plakate der neuesten Image-Kampagne, „Tunisia 2020“, strahlen einem an jeder Straßenecke entgegen. Nach den terroristischen Anschlägen der Vorjahre, vor allem in der ersten Jahreshälfte 2015, versucht Tunesien wieder Touristen anzulocken und sein Renommee als ehemals populäres Ziel vor allem für Strandurlauber zu erneuern. Doch wie schon unter Ben Ali wird das Hinterland vernachlässigt. Besonders prekär ist die Lage in Kasserine, an der Grenze zu Algerien. Hier, im ärmsten Regierungsbezirk des Landes, sind nur drei Prozent der Jugendlichen Studierende, die Menschen haben ganz andere Sorgen.

Sechs Jahre nach der Revolution sind die Versprechen der Regierung in Tunis ausgeblieben – und die Cafés mit arbeitslosen, frustrierten Männern voller denn je. Dies ist ein Nährboden für Offenheit gegenüber extremem Gedankengut. Seif Rezgui, der Attentäter von Sousse, galt als motivierter Ingenieur-Student, den niemand verdächtigte. Genauso war einer der Angreifer, die im März 2015 22 Geiseln im Bardo-Museum erschossen, ein Student aus Tunesiens Hauptstadt. Anders gelagert ist der Fall Anis Amris, durch dessen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche am 19. Dezember 2016 zwölf Menschen starben.

Für Studierende aus dem frankophonen Afrika ein begehrtes Ziel

Doch was tun, um den Studierenden und den jungen Absolventen in Tunesien bessere Perspektiven zu bieten? Der „Markt“ lokaler Unis, besonders im privaten Sektor, boomt. Wer durch Tunis läuft, sieht modernste Bauten – häufig mit europäisch orientierten Studiengängen – gerne mit französischer oder deutscher Kooperation. Doch auch die staatlichen Unis profitieren von neuen Freiheiten: Die Curricula wurden erheblich ausgeweitet und internationalen Standards angepasst. Das funktioniert teilweise so gut, dass Tunesien neben Marokko vielleicht die beliebteste Destination für Studierende aus dem frankophonen Afrika ist.

Für Manuel hat es sich gelohnt. Er kam vor fünf Jahren aus Togo und ist mittlerweile als Jahrgangsbester bei einem Börsenunternehmen in Tunis tätig. Er habe sich bewusst gegen den Schritt nach Europa entschieden, sagt Manuel. „Ich überlege es mir doch lieber zweimal, viel Geld auszugeben, um ein dreimonatiges Praktikum in Deutschland auf meinen Lebenslauf stehen zu haben – an dessen Ende ich womöglich wieder nach Hause zurückkehren muss, da ich weder Visa noch genug Arbeitserfahrung für eine Festanstellung habe.“

Hoffnung durch die Harvard-Universität

Die wenigsten schaffen es auf so direktem Wege zum beruflichen Durchbruch. Doch das Potenzial der jungen Leute in Tunesien wird international erkannt. Die Universität Paris-Dauphine hat ihren einzigen Auslandscampus in Tunis, seit mehreren Jahren gibt es einen regen Austausch von Studenten und Professoren zwischen Paris und Tunis. Erst vor wenigen Wochen eröffnete die Harvard University ihr erstes Büro in Nordafrika. Geleitet vom tunesischen Harvard-Alumni Hazem Ben Gacen, ermöglicht es amerikanischen Studierenden, in Tunesien über den Nahen und Mittleren Osten zu recherchieren. Aber Harvard stellt auch Stipendien für junge Tunesier bereit, die sich für ein Studium in den USA qualifizieren.

Doch führen solche Kooperationen nicht erst recht zu einem „Brain Drain“? Hazem Ben-Gacem verweist auf seinen eigenen Fall als Beispiel dafür, dass man die gesammelten Erfahrungen dann dafür einsetzen kann, die Zukunft des Heimatlandes mitzugestalten. Tunesiens Premierminister Youssef Chahed, kürzlich zum Staatsbesuch in Deutschland, verbrachte viele Jahre als Student und Professor an Universitäten im Ausland. „Nach Hause“ brachte er internationales Know-how – und frischen Wind in die veralteten politischen Strukturen des Landes.

Frank Walter Steinmeier forderte anhaltende Reformen

Zurück im Hörsaal der Universität von El-Manar. Ziemlich genau vor zwei Jahren hat in diesem Raum Frank Walter Steinmeier als damaliger Außenminister eine Rede gehalten, deren Titel auch heute die Situation der Tunesischen Jugend trifft: „Wider die einfachen Antworten“. Steinmeier suchte das Gespräch mit der Jugend. Was der jetzige Bundespräsident vorschlug, war richtungsweisend: ausländische Investitionen, die sich auf das tunesische Kernland ausdehnen, einen besseren Übergang von der Schule oder der Universität in den Arbeitsmarkt – und anhaltende Reformen des tunesischen Rechtsstaats, ohne den kein wirtschaftlicher Fortschritt gelingen kann.

Steinmeiers wichtigster Rat aber lautete: „Ideen müssen her: Ideen, für neue Produkte und Projekte; und Ausdauer und harte Arbeit, um sie zu verwirklichen.“ In diesem Punkt stimmt Manuel, der junge Aufsteiger aus Togo, Steinmeier zu: „Die diplomierten Arbeitslosen sollten sich nicht entmutigen lassen und den Versuch starten, ein eigenes Projekt zu entwickeln und Fördermittel zu suchen.“

Deutschlands Transformationspartnerschaft mit Tunesien, unlängst beim Staatsbesuch der Bundeskanzlerin bestätigt, kann helfen, die junge Demokratie zu stützen. Vorbildlich sind erste duale Ausbildungsprogramme. Weitere EU-Staaten haben finanzielle Unterstützung zugesagt und die EU bemüht sich, auch entlegenere Regionen in Entwicklungsprojekte einzubinden. Hilfe für Afrikas jüngste Demokratie ist gerade in Zeiten der weltweiten Verzahnung von Immigration, Terrorismus und politischer Instabilität zentral. Die negativen Folgen einer weiteren Destabilisierung wären fatal, sowohl für Tunesien als auch für Europa.

Der Autor koordiniert in Tunis das Mittelmeer-Programm des Europa-Instituts „CIFE“.

Sebastian Franzkowiak

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