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Kultur: Bühne und Prozess

Zwischen Moskau und Ruanda: Werkschau des Dokumentaristen Milo Rau in den Sophiensälen.

Seit einigen Wochen hat der gebürtige Berner Milo Rau ein denkwürdiges Alleinstellungsmerkmal vorzuweisen. Er sei der erste Schweizer, der bis dato an einem Einreisevisum nach Russland scheiterte, erklärt der Regisseur trocken. Als Rau im September zu Dreharbeiten nach Moskau fliegen wollte, verweigerte ihm das russische Generalkonsulat die Einreise. „Die Gründe können Sie googeln, indem Sie Ihren Namen eingeben“, teilte man dem 36-Jährigen auf Nachfrage beim Visumsservice mit.

Zweifellos ganz oben auf der Liste vermeintlicher Straftatbestände: „Die Moskauer Prozesse“. Unter diesem Titel, der bewusst auf die stalinistischen Schauprozesse rekurriert, hatte Milo Rau im März im Moskauer Sacharow-Zentrum drei reale Strafverfahren gegen russische Künstler als Theaterevent neu aufgerollt, darunter auch den Prozess gegen die Punkband Pussy Riot wegen „Schürens von religiösem Hass“. Auf der Gerichtsbühne standen dabei keine Schauspieler, sondern reale Prozessbeteiligte wie das Pussy-Riot-Mitglied Jekaterina Samuzewitsch; und der Prozessausgang war wirklich offen.

Jetzt ist das Corpus Delicti in Berlin zu sehen. In einer Installation zeigen die Sophiensäle nahezu den kompletten Videomitschnitt der „Moskauer Prozesse“, die international Aufsehen erregt hatten. Zum einen, weil sie nacheinander öffentlichkeitswirksam von russischen Behörden und von einer Gruppe orthodoxer Kosaken gestört worden waren. Und zum anderen, weil Raus Theaterprozess tatsächlich mit einem Freispruch endete – im Gegensatz zur russischen Realität, wo sich die Angehörigen der inhaftierten Pussy-Riot-Aktivistin Nadeschda Tolokonnikowa zurzeit extrem sorgen, weil seit zwei Wochen jede Spur von ihr fehlt. Milo Raus aus Moskauer Bürgern gecastete Geschworenen-Jury, die ihr Geld im wahren Leben als Bienenzüchter oder als Fotostudiobesitzer verdient, hatte final auf „nicht schuldig“ plädiert.

Diesen „symbolischen Freispruch“ wird der Regisseur kommenden März – zeitgleich mit dem Auslaufen der Haftstrafen gegen die Pussy-Riot-Frauen Maria Aljochina und Nadeschda Tolokonnikowa – allen Visumswidrigkeiten zum Trotz in einer Filmversion ins Kino bringen. „Was mich natürlich interessiert hätte“, sagt Rau, wäre ein resümierender „Rückblick auf die Prozesse ein halbes Jahr später gewesen.“ Aus diesem Grund hatte er im September erneut nach Moskau reisen wollen. „Ich dachte nicht, dass sich die Lage noch einmal so verschärft“, erklärt der Regisseur im Hinblick auf das Anti-Homosexuellen-Gesetz. In einer Talkshow im russischen Staatsfernsehen habe ein Gast kürzlich geäußert, seiner Meinung nach dürften „Schwule kein Blut und keinen Samen abgeben, damit sie niemanden verseuchen, und nach ihrem Tod sollten ihnen die Herzen herausgerissen und so tief wie möglich vergraben werden.“

Einige der für Moskau geplanten Nachdrehs konnten per Skype realisiert werden. Vom aktuellen Stand der Filmarbeiten wird in den Sophiensälen sicher die Rede sein. Die Moskauer Prozess-Installation ist eingebettet in eine dreitägige Rau-Werkschau unter dem Titel „Die Enthüllung des Realen“. Sie präsentiert die komplette bisherige Arbeit des Regisseurs und lässt ihn in Diskussionen selbst zu Wort kommen.

Milo Rau hat das politische Theater in den letzten Jahren um eine neue Facette bereichert. Im Gegensatz zu den Ansätzen des Experten-Theaters von Rimini Protokoll oder des Dokumentartheaters von Hans-Werner Kroesinger setzt Rau auf der Bühne zwecks produktiver Irritation auf reine Ereignishaftigkeit ohne vermittelnde Kommentare, nach dem Motto „Es gibt keinen Ort, der sich schlechter für Moral eignet als das Theater“.

Visa werden dem Regisseur zwar nicht jedes Mal verweigert. Aber Spielstätten schon. Egal, ob er in seiner zum Theatertreffen 2012 eingeladenen Produktion „Hate Radio“ ruandische Schauspieler, die ihre Familien mehrheitlich im Genozid 1994 verloren haben, eine aus Dokumenten gesampelte Programmstunde des Propaganda-Senders RTLM nachstellen oder ob er in „Breiviks Erklärung“ von der Schauspielerin Sascha Ö. Soydan maximal verkörperungstheaterfern die Verteidigungsrede des norwegischen Rechtsterroristen Anders Breivik lesen lässt. Proteste gibt es eigentlich immer von irgendwoher. Ein Wirksamkeitsstatus, der im Theater zurzeit nicht oft errungen wird. Christine Wahl

Sophiensäle, 7. bis 9.11., Info unter www.sophiensaele.com

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