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Besucher willkommen. Der Tourismus prägt das Leben in der Stadt. Amsterdam und Barcelona sind viel innovativer, meinen unsere Gastautoren.

© Gerald Matzka/dpa

75 Visionen für Berlin - Folge 45: Berlin fehlt ein Konzept für nachhaltigen Tourismus

Das Stadtmarketing „Visit Berlin“ ist veraltet. Andere Metropolen machen es besser. Zeit für eine Neuausrichtung. Ein Gastbeitrag.

Johannes Novy, University of Westminster (London), ist Stadtforscher und beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Tourismus auf Städte und deren Entwicklung und Planung. Christoph Sommer, Leibniz Universität Hannover, ist Stadtforscher und hat die Berliner Tourismus-Governance in seiner kürzlich an der HU Berlin abgeschlossenen Dissertation untersucht.

Ein Sprichwort besagt, dass in jeder Krise eine Chance liegt. Nur ein Klischee, natürlich, aber dass die Coronakrise in vielen gesellschaftlichen Bereichen Chancen eröffnet hat, Veränderungen anzustoßen, ist offensichtlich. Das gilt auch für den Tourismus, der nun langsam wieder hochfährt. Unter Stakeholdern im Tourismus kursiert der Slogan „Build back better“, um die Bestrebung zu bekräftigen, die mit der Pandemie verbundenen Chancen nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.

Bemüht wird er auch von der Welttourismusorganisation der Vereinten Nationen (UNWTO), deren Generalsekretär Zurab Pololikashvili anlässlich des Weltumwelttages 2020 davon sprach, den Neustart des Tourismus post-Covid zu einem Wendepunkt machen zu wollen. Nachhaltigkeit dürfe nicht länger ein Nischenthema sein, sondern müsse zur „Norm“ im Tourismus werden.

So sieht die One Planet Vision der UNWTO eine „verantwortungsvolle Erholung des Tourismussektors“ vor, die unter anderem getragen wird von sozialer Inklusion, Klimaschutz und Biodiversität, der Transformation des Tourismussektors hin zu einer zirkulären Ökonomie sowie einer Verbesserung touristischen Managements.

Gastautor Johannes Novy, studierte Stadtplanung und Urbanistik in Deutschland, Italien und den USA. Er promovierte an der Columbia University, New York.
Gastautor Johannes Novy, studierte Stadtplanung und Urbanistik in Deutschland, Italien und den USA. Er promovierte an der Columbia University, New York.

© Privat

All diese Ziele verbindet, dass sie weder völlig neu sind noch von oben verordnet werden können. Ihre Umsetzung liegt in der Verantwortung lokaler Akteure, die sich in Zeiten von Lockdowns und Reisebeschränkungen mal mehr und mal weniger ambitioniert daran gemacht haben, Veränderungen auf den Weg zu bringen. Einige Städte, wie Amsterdam oder Barcelona, haben sich bereits vor Corona mit innovativen, teils radikalen Vorhaben einen Namen gemacht und diesen Kurs anschließend fortgesetzt.

Zukunftsweisende Lösungen fehlen

Von Maßnahmen gegen die Überfüllung hochfrequentierter Orte sowie die Entstehung touristischer Monostrukturen über eine Eindämmung des boomenden Hotel- und Ferienwohnungsgewerbes bis hin zu Maßnahmen für einen ökologischeren und solidarischeren Tourismus sowie eine stärkere Beteiligung der Bewohner an dessen Gestaltung. Von Berlin lässt sich das nicht behaupten.

Gastautor Christoph Sommer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leibniz Universität Hannover und forscht unter anderem zu Urban Governance und Tourismus.
Gastautor Christoph Sommer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leibniz Universität Hannover und forscht unter anderem zu Urban Governance und Tourismus.

© Privat

Zwar bezeichnete Visit Berlin-Chef Burkhard Kieker, oberster Tourismuswerber der Stadt, Berlin in dieser Serie (siehe Folge 20) als „eine Drehscheibe des Nachdenkens über Zukunftslösungen“, doch mit zukunftsweisenden Lösungen für den Tourismus kann die Stadt nicht aufwarten.

Berlin ist mit dem 2018 vorgestellten Tourismuskonzept weder „zum Vorreiter für einen stadtverträglichen Tourismus“ geworden, wie von Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) angekündigt noch hat sich die Hauptstadt zum Vorbild für einen ökologisch nachhaltigen Tourismus entwickelt.

So, wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, macht auch ein über die Spree schipperndes Solarboot touristische Mobilität nicht wirklich „grün – zumal Touristenbusse, oft mit alten Dieselmotoren, immer noch weitgehend unreguliert durch die Berliner Innenstadt fahren können, was in vielen anderen Städten längst nicht mehr der Fall ist.

Die Politik muss handeln

Wir haben es mit einem Paradoxon zu tun, das es nicht nur in Berlin gibt, aber bei uns besonders ausgeprägt ist. Tourismus prägt, wie sowohl die „Overtourism“-Debatte der 2010er Jahre als auch (unter umgekehrten Vorzeichen) der pandemiebedingte „Undertourism“ zeigen, als wesentlicher Einflussfaktor der Stadtentwicklung das Leben der Stadt.

Das Politikfeld „Tourismus“, sofern man darunter mehr versteht als Marketing, wird jedoch stiefmütterlich behandelt, trotz aller gegenteiligen Rhetorik. Die Programme der Parteien für die anstehende Wahl zum Abgeordnetenhaus vermitteln nicht den Eindruck, dass sich dies bald ändern wird. Und das, obwohl Gestaltungsbedarf und -potenzial kaum größer sein könnten.

Konkret geht es etwa um die Sicherung vielfältiger Kiezgewerbestrukturen, den Umgang mit dem Beherbergungswesen – eine Anfrage der Grünen ergab, dass allein in Pankow 25 neue Hotels entstehen sollen; ganz zu schweigen von der Aufgabe, touristische Mobilität im Sinne des Klimaschutzes neu zu organisieren. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Es mangelt an der Umsetzung

Dabei geht es nicht nur um die problematischen Aspekte des Tourismus, sondern auch um die optimale Nutzung seiner Potenziale, die sich bei weitem nicht auf die wirtschaftlichen beschränken. Dass sich Berlin mit beidem schwertut, liegt nicht an einem Mangel an Ideen. Es mangelt an ihrer Umsetzung.

Ein paar Beispiele: Während in der Liegenschafts- und Bodenpolitik die Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft spürbar vorangebracht wurde (siehe Beitrag von Florian Schmidt in Folge 37 dieser Serie), ist es im Bereich des Tourismus nicht mal gelungen, den Runden Tisch Tourismus aus dem Hinterzimmer der Senatskanzlei zu holen.

Während andere Städte längst über Beherbergungskonzepte verfügen, redete man in Berlin seit 2013 über ein solches und auch das 2018 angekündigte „Governance-Konzept für eine integrative Tourismus- und Stadtentwicklungspolitik“ lässt bis heute auf sich warten.

Marketing allein genüg nicht

Woran liegt's ? Sicher auch an der Dauerherausforderung für die „Stadt(tourismus)entwicklung“ ressort- und verwaltungsebenenübergreifend Verantwortung zu übernehmen – und sie eben nicht dem berüchtigten Berliner Behörden-Pingpong preiszugeben. Aber nicht nur. Schwerer wiegt die Idee, das Querschnittsthema Tourismus sei auf Landesebene, abgesehen von der Vorgabe grober Richtlinien, bei den Tourismusvermarktern von Visit Berlin in guten Händen. Das ist nicht der Fall.

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Nicht nur, weil sie bislang nicht genügend Ressourcen und Kompetenzen hatten, um über ihr Kerngeschäft des Berlinmarketings hinausgehend große Sprünge zu machen. Sondern auch, weil die Tourismuspolitik damit der Logik und Normativität eines kommunalen Unternehmens überlassen wird, das eng mit der Tourismusbranche verbunden ist und sich bis heute primär als Marketingagentur versteht.

Tagesspiegel-Serie: 75 Visionen für Berlin.
Tagesspiegel-Serie: 75 Visionen für Berlin.

© Illustration: Katrin Schuber, TSP

In der Tourismuspolitik geht es auch um den Ausgleich konkurrierender Interessen, und Visit Berlin damit zu betrauen, diesen zu organisieren, ist in etwa so sinnvoll, als wenn bei einem EM-Spiel einer der gegeneinander antretenden Mannschaften den Schiedsrichter stellt. Der von den Grünen im Falle eines Wahlsieges angestrebte Umbau visitBerlins „von einer Marketingagentur zu einer gestaltenden Akteurin, die Impulse für einen nachhaltigen und stadtverträglichen Tourismus setzt“, ist eine aufgewärmte Verlegenheitslösung.

Vielversprechender wäre es, dem Beispiel Barcelonas folgend, Tourismuswerbung und -management institutionell zu trennen und auf Senatsebene Kompetenzen zu schaffen, um besagte Impulse – unter Miteinbeziehung aller relevanten Akteurinnen und der Öffentlichkeit – zu generieren. Was sonst noch wünschenswert ist: ein ausgeglicheneres Verhältnis zwischen den öffentlich bereitgestellten Mitteln für Tourismuswerbung und -management, wie es zum Beispiel Amsterdam verfolgt.

Nachhaltigkeit statt immer mehr Flugverkehr

In Berlin wurden die Ausgaben für Tourismus zwischen 2011 und 2018 auf knapp 28 Millionen Euro verdoppelt (inklusive der erwirtschafteten Eigeneinahmen von visitBerlin), der Anteil der Mittel für Projekte im Bereich eines nachhaltigen Tourismusmanagements daran ist mit einer Million Euro verschwindend gering. Die Notwendigkeit, entschiedener für mehr Nachhaltigkeit einzutreten, wie es die UNWTO fordert, ist derweil offensichtlich.

Dazu gehört auch, neue Flugverbindungen nicht weiter vorbehaltlos abzufeiern. Stattdessen ist es auch im Rahmen lokaler Tourismuspolitik wichtig, nach Wegen zu suchen, das Wachstum und die Klimaauswirkungen des Flugverkehrs zu begrenzen, denn solange man nicht auch die An- und Abreise seiner Besucher berücksichtigt, kann es keinen nachhaltigen Städtetourismus geben.

Berlin täte gut daran, die im Tourismuskonzept hinterfragte Vorstellung von „Touristen“ einerseits und „Einheimischen“ andererseits auszuformulieren. Das hieße, die freizeittouristischen Mobilitäten der Berliner ebenso zu betrachten wie die stadtprägenden Mobilitäts- und Konsumpraktiken von Gruppen, die weder eindeutig als „ortsansässig“ noch als „ortsfremd“ einordbar sind: zum Beispiel Austauschstudierende oder sogenannte digitale Nomaden und Semi-Migranten, die zwischen zwei oder mehreren Ländern hin- und herpendeln.

[Alle bisher erschienenen Beiträge der Serie "75 Visionen für Berlin" lesen Sie hier.]

Egal, wie man diese Stadtnutzer auch bezeichnet – in Kopenhagen spricht man von „temporären Bewohnern –, entscheidend ist die ganzheitliche Betrachtung der hochmobilen (Stadt-)Gesellschaft Berlins, die ein enormes Innovations-, aber auch Konfliktpotenzial birgt. Wenn Berlin wirklich eine „Drehscheibe des Nachdenkens über Zukunftslösungen“ ist, darf es keine Denkverbote geben.

Und weil das Wagnis, etwas Neues zu tun, manchmal Altes hinter sich lassen muss, ist in unserer Vision für Berlin kein Platz für Visit Berlin in seiner herkömmlichen Form. Die Agentur mag der Stadt bei ihrer Vermarktung gute Dienste erwiesen haben, aber die überfällige inhaltliche Neuausrichtung der Tourismuspolitik erfordert auch einen institutionellen und organisatorischen Neuanfang.

Johannes Novy, Christoph Sommer

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