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Marlene Rieger (1927-2019)

© privat

Nachruf auf Marlene Rieger (Geb. 1927): Abermals allein

Lange musste sie ohne ihre Eltern leben. Dann der Krieg und dann ein neues Leben.

Szene eins: Marlene ist vier. Sie lebt zusammen mit ihrer Schwester Ellinor, aber ohne Eltern, auf einem Gutshof in Mecklenburg. Ellinor und die Gutshoftochter, beide älter, tuscheln oft miteinander, Marlene steht abseits. „Sei nicht traurig“, flüstert ihr Ellinor dann nachts in ihrem gemeinsamen schmucklosen Zimmer zu. „Ich bin trotzdem auf deiner Seite.“ Dieses Mal aber ist es schlimmer als sonst. Die beiden großen Mädchen laufen lachend weg. Marlene sieht sie nicht mehr, hört sie nur noch hinter einer Kirchhofmauer. Auf ihr Rufen keine Antwort. Sie erklimmt die Mauer, springt auf der anderen Seite herab in einen Brennnesselbusch. Heiße, juckende Male auf der blassen Haut. Allein, mitten auf dem Friedhof. Angst. Sie rennt zum Tor, es ist verschlossen. Sie nimmt ihre ganze Kinderkraft zusammen und klettert aufs Tor, will hinunterspringen, aber ihr Rock hängt fest in den eisernen Spitzen. Niemand weit und breit. Irgendwann kommt ein Passant vorbei und befreit sie.

Szene zwei: Winter, „Kinderpension Bröse“ in der Zehlendorfer Berlepschstraße. Marlene ist sieben. In der Nähe gibt es einen Rodelberg. Sie sieht zwei ältere Jungs, die einem Vierjährigen den Schlitten stehlen wollen. Sie rennt auf die Jungs zu, spürt Angst und Wut. „Lasst den Kleinen in Ruhe!“, schreit sie. Ein Faustschlag folgt, mitten in ihr Gesicht. Die Lippe blutet. Sie weint. Aber sie hat der Angst standgehalten.

Ohne Eltern hieß: mit oftmals abwesenden Eltern. Die ersten drei Jahre in Wuppertal waren noch, aus Sicht des Kindes, intakt: ein herrliches Haus, ein helles Mädchenzimmer, Mutter und Vater beieinander. Doch lag schon ein Schatten auf der Ehe. Der Vater ging mit seiner Baufirma in den Zeiten der Inflation pleite, die Mutter, deren eigentliche Liebe zu einem Lapplandforscher unerfüllt geblieben war, warf ihm vor, morgens zu lang geschlafen zu haben, anstatt auf die Baustellen zu gehen. Das Haus wurde verkauft, die Familie zog 1930 nach Berlin. Zu viert zur Untermiete bei Frauen, die Krautwurst und Rindfleisch hießen. Dann die Trennung.

"Ein Herr Hitler hat geredet"

Eine Mutter allein mit zwei Töchtern, vom Vater kein Pfennig Unterstützung. Sie musste sich kümmern. „Wir Kinder waren im Wege“, berichtet Marlene später. Sie kamen für zwei Jahre auf den Mecklenburger Gutshof. Vermissten die Eltern, einerseits, erlebten andererseits die freien Streifzüge übers weite Land. Keine grauen Straßen, kein Großstadtgetöse. Sie fingen Frösche, saßen am Wiesenrand, knabberten weiße Rübchen und pfiffen auf Grashalmen. Wagten, so hatte es sie die Gutshoftochter gelehrt, vorsichtig in das Hinterteil eines Huhnes zu greifen, um ein noch warmes Ei zu Tage zu fördern. Besuchten die Dorfschule – auch Marlene, die eigentlich noch zu jung war – saßen zusammen in einer Klasse und kritzelten Worte in Sütterlin auf ihre Schiefertafeln. Marlene schrieb Briefe nach Hause: „Heute haben wir eine Eiche begraben. Ein Herr Hitler hat geredet.“ Da stand sie mit den anderen Schülern um eine Grube, in die ein Bäumchen gesetzt wurde, während der "Herr Hitler" die kleine Versammlung mit gewichtigen Worten bedachte.

Nach zwei Jahren kehrten sie zurück nach Berlin und lebten die Woche über in der „Kinderpension Bröse“. Da stand ein langer Tisch, an dem alle ihre Hausaufgaben erledigten. Schuhputzdienst. Abtrocknedienst. Spiele im großen Garten. Ein Faschingsfest. Marlene verkleidete sich als Junge, zog ihr Kleid aus und eine Hose an und spazierte stolz die Straße entlang. Mädchen trugen keine Hosen. In der Schule fiel sie besonders in Mathe auf. Ein Lehrer gab ihr Aufgaben, über denen sie Tage brütete, bis sie die Lösung gefunden hatte. Sie nahm Nachhilfeschülerinnen.

Der Krieg kam und änderte auch ihr Leben. Lebensmittelmarken. Kinderlandverschickung. Bombennächte in Berlin. Das Lyzeum wurde zum Lazarett. Evakuierung der Schule in eine Kleinstadt östlich der Oder. Marlene, abermals allein, ohne Mutter, ohne Schwester, lernte die Selbstständigkeit, Putzen, Waschen, Küchenarbeit – und Auflehnung gegen Ungerechtigkeiten. „Sie ist der Oppositionsgeist der Klasse“, vermerkte die Lehrerin im Zeugnis.

„So schlimme Sachen machen die Deutschen nicht“

Weil sie fürchtete, als Flakhelferin eingesetzt zu werden, meldete sie sich beim Roten Kreuz. Nach der Ausbildung eine Station für Tuberkulosekranke. Die Schmerzensrufe, der Tod, immer und überall. Schließlich die Flucht nach Süden, der Versuch, auf die andere Seite der Elbe zu gelangen. Berichte britischer Soldaten, die das KZ Bergen-Belsen befreit hatten. „So schlimme Sachen machen die Deutschen nicht“, dachte sie. Amerikanische Kriegsgefangenschaft, Lazarettdienst, Amputationen, Schreie. Sie bekam Gelbsucht. Ende Oktober 1945 endlich der Entlassungsbescheid. Marlene fuhr nach Bayern, wo ihre Mutter lebte.

Befreiung und ein neues Leben. Sie begann ein Lehrerstudium in München, Mathe und Physik. Drei Mädchen nur in der Fakultät. Demokratie lernen, Gleichberechtigung, alles auf einmal. Sie engagierte sich in der Studentenvertretung.

Und begegnete Edmund, die beiden unternahmen Radtouren, führten politische Gespräche, sie besuchte ihn auf seiner Bude unter der Wohnung des Pfarrers. „Wenn der Pfarrer Bezzel wüsst, wie oft man unter seinem Bett geküsst.“

Sie bestand das Examen, musste für das Referendariat aber nach Berlin. Zum ersten Mal stand sie vor einer Klasse. Nur Jungs.

1954 kam Edmund nach Berlin, sie heirateten.

Und dann wurde Marlene ständig schlecht. Irgendwann konnte sie die Rundung ihres Bauches nicht mehr verbergen. Eine schwangere Lehrerin an einer Jungenschule? Ausgeschlossen damals.

Nach dem ersten Kind zwei weitere. Hausfrauenexistenz. „Nun wurde Edmund Herr über das Geld, das ich für den Haushalt in die Hand kriegte, und er bestimmte, wie viel.“ So schrieb sie in ihren Aufzeichnungen. „Mir fehlte die geistige Herausforderung.“ Zwölf Jahre nach ihrem Schulausstieg fing sie wieder an zu unterrichten. Und zog sich nie mehr verzagt zurück.

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