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Berlin: Als „Jupiter“ baden ging

Das Geheimnis der Drehbrücke: Seit Eröffnung der ersten preußischen Bahnstrecke war fast 18 Jahre alles gut gegangen. Lokomotiven galten als Inbegriff des Fortschritts, genossen die Sympathie selbst des Königs. Aber dann hat ein Zugführer einmal nicht aufgepasst…

Natürlich, als Erstes suchte Albert Baffi seine Annonce, die er ins „Potsdamer Intelligenz-Blatt“ hatte rücken lassen. Der Gipsfiguren-Fabrikant saß noch am Frühstückstisch. Der Duft frischer Brötchen durchströmte das Haus, die Gemahlin bat, etwas Kaffee nachschenken zu dürfen. „Ja, bitte“, brummte er, leicht zerstreut. Der Lektüre des Lokalblattes gehörte in diesem Moment mehr Aufmerksamkeit als der Gattin, der Hauskatze und dem Pflaumenmus. Seine Anzeige auf Seite 3 war gut, wenn nicht gar majestätisch formuliert: „Zur Feier des Allerhöchsten Geburtstages Sr. Majestät des Königs empfehle ich mein reich assortiertes Gipsfiguren-Lager, vorzüglich Büsten Sr. Majestät des Königs und der Königin, Sr. Königl. Hoheit des Prinzen von Preußen zu Kauf und Miethe gegen die allersolidesten Preise, auch werden von mir zu jeder Zeit alte Figuren gegen neue eingetauscht und gestrichen.“ Wir schreiben den 14. Oktober 1855, morgen feiern Seine Majestät Friedrich Wilhelm IV. den 60. Geburtstag. Ist dies nicht ein passendes Ereignis, um der in Preußens Residenzstadt so ausgeprägten obrigkeitsverehrenden Gesinnung neuen Schwung zu geben? Geburtstage im Hause Sr. Majestät waren dem Absatz künstlerisch gestalteter Büsten sehr förderlich. Denn wie könnte die Liebe zu König und Vaterland besser zum Ausdruck gebracht werden als durch stete Anwesenheit des Herrschers in Gestalt seines Oberteils auf der Anrichte im eigenen Wohnzimmer?

Aber wollte der König denn überhaupt diesen Überschwang der Untertanen? Friedrich Wilhelm IV. ist der feingeistige Romantiker auf dem Thron. Seine Regentschaft folgt anno 1840 der von Friedrich Wilhelm III. und währt bis 1861. Heute aber, vor seinem 60. Geburtstag am 15. Oktober 1855, verrät das Lokalblatt seiner verwunderten Leserschar ein Geheimnis: „Dem Vernehmen nach sollte aus Veranlassung des Allerhöchsten Geburtstages Sr. Majestät des Königs eine allgemeine Illumination stattfinden. Wie wir indeß jetzt aus sicherer Quelle erfahren, findet dieselbe nicht statt, weil Se. Majestät in Berücksichtigung der jetzigen Noth und theuern Zeit derartige kostspielige Zeichen der Liebe und Verehrung für Seine allerhöchste Person abzulehnen geruht haben.“ Sehr schön gesagt und bescheiden dazu.

Die Tücken der Dampfkraft

Potsdam, die Residenz-, Militär-, schließlich auch noch Beamtenstadt, war weit bekannt, und nicht nur, weil Friedrichs „Versailles an der Havel“ als Königssitz zum Regierungsmittelpunkt einer europäischen Großmacht geworden war – nein, Potsdam mit seiner Architektur und Landschaftsgestaltung galt als ein künstlerisches Juwel. Der Glanz des Gesamtkunstwerks schimmert noch heute in unserem 21. Jahrhundert auf. Damals, 1855, herrschte Frieden im Preußenland. Idyllisch liegt sie da, die Perle vor den Toren Berlins, eine Mischung aus Würde und Stolz. Ein märkisches Arkadien.

1855? Da fuhr bereits seit 17 Jahren die erste Eisenbahn in Preußen – zunächst bejubelt und bestaunt, doch bald schon urplötzlich durch menschliches Versagen in die Schlagzeilen geraten: Die neue Dampfkraft, einmal losgelassen, kann auch ihre Tücken haben und ungebändigt in die Katastrophe rasen – wir werden sehen.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts stand bereits jenes merkwürdige Gebäude an der Neustädter Havelbucht, das einer orientalischen Moschee sehr ähnlich war, doch nie von einem Muezzin betreten wurde. Warum wohl? Architekt war jener Ludwig Persius, der die Heilandskirche von Sacrow entworfen hatte und die ähnlich gestaltete Friedenskirche am östlichen Eingang zum Park von Sanssouci. Der Zug nach Magdeburg fuhr dort regelmäßig vorbei, die Bahnstrecke durchschnitt die die Bucht auf einer Brückenkonstruktion mit drehbarem Segment.

Der König förderte in dieser Zeit nach Kräften die Verschönerung der Stadt und ihrer Umgebung. Baumeister Karl Friedrich Schinkel entwarf die Schlösser in Glienicke, Charlottenburg und Babelsberg sowie die Nikolaikirche, die bis heute die Stadtsilhouette prägt. Schinkels Schüler August Stüler, Ludwig Ferdinand Hesse, Ferdinand v. Arnim und eben jener Ludwig Persius machten sich – angespornt von manchen Vorschlägen und Entwürfen des italiensüchtigen Königs höchstselbst, zum Beispiel für das Belvedere auf dem Pfingstberg – um das kunstvolle Bild der Stadt ebenso verdient wie Peter Joseph Lenné, der als Gartenkünstler bis zu seinem Tode 1866 das blühend-grüne Gesamtkunstwerk der Stadt an der Havel gestaltete.

An Gesprächsstoff über die große Politik und an Klatsch und Tratsch über Begebenheiten am Hofe, beim Militär und in der Diplomatie mangelte es nie. Dereinst waren so bedeutende und unterschiedliche Menschen wie Giacomo Casanova, Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart oder Voltaire bei Hofe gewesen. Jetzt ist es der Dichter Theodor Storm, der von 1854 bis 1856 als Jurist am Potsdamer Kreisgericht arbeitet und nebenher in seiner Wohnung in der Brandenburger Straße 70 Geschichten schreibt. Rückblickend sagt er über seine Zeit in Potsdam knapp: „Dreimal umgezogen, Preußisches Landrecht gelernt, eine Menge Illusionen aufgegeben, was Preußen betrifft, eine kleine Novelle geschrieben, eine Tochter geboren, ein Magenleiden zugezogen und den Wert echter Freundschaft kennengelernt. . .“

Im Rausch der Geschwindigkeit

Die große Errungenschaft der letzten Jahre ist mittlerweile so selbstverständlich, dass sie keiner besonderen Erwähnung bedarf, und doch trägt die neue Art der Fortbewegung noch immer revolutionäre Züge. Die Eisenbahn! Klug durchdacht, rasch ausgeführt. Alle Stände sitzen, voneinander getrennt zwar, aber immerhin: in einem Zug. Im Herbst 1838 wurde die Strecke zwischen Berlin und Potsdam eröffnet. König Friedrich Wilhelm III. war von den neuartigen Dampfrössern nicht gerade begeistert und murrte, dass er sich keine besondere Glückseligkeit dabei vorstellen könne, ob man nun eine Stunde früher in Potsdam ankommt oder nicht. Aber sein Sohn, der spätere König Friedrich Wilhelm IV., erkannte die Bedeutung des neuen Verkehrsmittels. Der Kronprinz soll bei der Jungfernfahrt auf der Lokomotive des ersten Zuges den bedeutungsschweren Satz gerufen haben: „Diesen Karren, der durch die Welt rollt, hält kein Menschenarm mehr auf!“ Und die „Vossische Zeitung“ schreibt über den feierlichen Betriebsbeginn zwischen Potsdam und Zehlendorf am 22. September 1838: „Ein schneidendes Pfeifen gab das Signal zur Abfahrt. Sie begann in langsamem Tempo, wuchs aber mit jeder Sekunde, bis sie jene rapide Schnelligkeit erreicht hatte, die Eisenbahnen ihren so glänzenden Sieg über alle sonstigen Mittel des Fortkommens erfechten. Einige Reiter versuchten eine Zeit lang den Wagenzug zu begleiten, doch schon nach wenigen Minuten konnten die erschöpften Pferde nicht mehr in gleicher Schnelligkeit folgen. In nicht voll zwei und zwanzig Minuten war der Anhaltpunkt bei Zehlendorf erreicht.“ 37 Tage später wurde die Teilstrecke von Berlin-Mitte nach Zehlendorf eröffnet, die Strecke war komplett. Eine zeitgenössische Broschüre beschreibt ihren Weg: Die Bahn beginnt bei dem in der Nähe der Berliner Akzisemauer am Potsdamer Tor gelegenen Bahnhofe, passiert den Landwehrgraben und berührt in ihrem über die Hälfte des Weges mit der Chaussee fast parallelen Lauf die Dörfer Schöneberg, Steglitz und Zehlendorf. In Steglitz wird am 24. Juni 1840 durch die Direktion der Berlin-Potsdamer Eisenbahngesellschaft das „Concessionierte Theater“ eröffnet, um der neuen Bahnstrecke mehr Fahrgäste zuzuführen – ein mäßig erfolgreiches, bald schon überflüssiges Unternehmen. Seit Herbst 1846 kann man von Potsdam aus weiter bis nach Magdeburg fahren.

Zehn Jahre lang geht alles gut. Dann kommt die Katastrophe. An jenem 29. Mai 1856 stehen „zahllose Volksmassen“ auf den Straßen, in den Fenstern brennen Kerzen, die Glocken der Garnisonkirche läuten, und 50 Salutschüsse begrüßen den Kaiser Alexander II. von Rußland. Aber wie ein Lauffeuer verbreitet sich unter den Wartenden die Kunde von einem Unglück, bei dem nicht weit vom Bahnhof, auf der Strecke nach Magdeburg, eine Lokomotive samt Lenker und Heizer in die Havel gestürzt war. Nach der Version des Direktoriums der Berlin-Potsdam-Magdeburger Eisenbahngesellschaft war eine der bei Borsig gebauten, über die Neustädter Havelbucht führenden Gitterfachwerk-Drehbrücken noch geöffnet, um Schiffe durchfahren zu lassen, als „eine leere Maschine, welche in solchem Falle vorschriftsmäßig vor der Brücke halten soll, des gegebenen Haltezeichens ungeachtet in so schneller Fahrt auf die Brücke zugefahren kam, daß sie nicht zum Stehen gebracht werden konnte, sondern in den Fluß gefallen ist und die Brücke beschädigt hat.“ Das verehrte Reise-Publikum erfährt zwar, dass es für ein paar Tage Ersatzverkehr geben und die Beschädigung „ohne große Opfer“ beseitigt wird – wie es dem Lokfahrer und seinem Heizer erging, liest man erst aus einer „Privatmitth.“ unter den vermischten Nachrichten. Danach erfolgte nach dem Sturz der Lok „Jupiter“ samt Tender kopfüber in die dort sehr tiefe Havel ein ungeheurer Knall bei der plötzlichen Abkühlung des Dampfkessels, „Lokomotivenführer und Heizer wurden in das Wasser geschleudert, zum Glück aber durch Schiffer gerettet, obgleich beide mehr oder weniger doch nicht lebensgefährlich beschädigt waren“. Die „Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen“ recherchiert gründlicher und beschreibt, wie der Brückenwärter der Lokomotive entgegenlief, „Halt!“ schrie und mit der Mütze wedelte. „Aber die Lokomotive brauste heran und mit ungehemmter Geschwindigkeit (da der Maschinist den Kopf verloren gehabt zu haben schien) stürzte sie sich auf die Lücke der offenen Brücke zu und flog mit der Vehemenz einer Kanonenkugel gegen das Eisengitter.“

Die Lokomotive wurde mit viel Mühe vom morastigen Grunde der Havel geholt. Aber da rollte der Verkehr längst wieder: Die Reparatur der Brücke dauerte nur zweieinhalb Tage. Wer den Ersatzverkehr nahm, hatte, wie im Zug, die Wahl zwischen drei Komfortstufen: Droschke, Kremser, Leiterwagen. Fortschrittsskeptiker mochten also sagen was sie wollten: Noch im Unglück wurde bei der Bahn den Erfordernissen der Drei-Klassen-Gesellschaft Genüge getan.

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