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Babyklappen in Berlin: „Ich werde an jedem Geburtstag auf Dich warten“

Babyklappen und anonyme Geburten retten Leben, sagen die Befürworter. Mütter suchen später häufig den Kontakt zu den Kindern

Von Sandra Dassler

„Sie hätten leben können, leben müssen – es gibt immer einen Weg“, sagt Gabriele Stangl. Wie viele andere ist sie schockiert über die zwei toten Babys, die innerhalb von fünf Tagen in Berlin gefunden wurden: „Ich habe vor allem auch gleich an die beiden Kinder gedacht, die im vergangenen Jahr ebenfalls im Abstand von fünf Tagen bei uns abgegeben wurden.“ Gabriele Stangl hat im Jahr 2000 die erste Babyklappe an einer deutschen Klinik initiiert und betreut im Zehlendorfer Krankenhaus Waldfriede Frauen, die anonym gebären wollen. Mehr als 200 waren das bisher. Sie ist dafür oft angefeindet worden. Vor allem, wenn tote Neugeborene gefunden werden, stellen viele Menschen den Sinn von Babyklappen infrage. „Wir können natürlich nicht jede Mutter erreichen“, sagt Stangl, „aber jedes Leben zählt.“

Dann erzählt sie von den beiden Kindern, die 2012 innerhalb von fünf Tagen in der Babywiege am Krankenhaus Waldfriede lagen: beides Jungen. Der erste wog fast vier Kilo, war kerngesund und von seiner Mutter liebevoll versorgt worden. Sie hatte auch zwei Briefe beigelegt – einen für die Mitarbeiter der Babyklappe mit Geburtsdatum sowie Namen und einen sehr ausführlichen an ihr Kind. „Der war sehr rührend“, sagt Gabriele Stangl. „Die Mutter schrieb, dass sie ihr Kind in fremde Hände geben müsse, weil sie mit ihrer Situation nicht klarkomme. Sie habe Angst vor Behörden und zu niemandem Vertrauen.“ Und ganz am Ende habe die Frau ihrem Sohn einen Treffpunkt genannt. „Dort werde ich jedes Jahr an Deinem Geburtstag auf Dich warten, mit einem Teddy im Arm, falls Du mich sehen willst. Auch wenn ich 18 Jahre lang warten muss.“

Ganz so lange wird es vielleicht nicht dauern, sagt Gabriele Stangl. Denn Briefe, die Mütter an ihre zur Adoption freigegebenen Kinder schreiben, werden diesen in der Regel schon am 16. Geburtstag ausgehändigt. Sie folgte jedenfalls ihrer Intuition, als wenige Stunden, nachdem der Junge in der Babywiege lag, eine Frau bei ihr anrief, um dem Krankenhaus „eine Information über das Kind“ zu geben. „Sind Sie vielleicht die Mutter?“, fragte Stangl vorsichtig, und als die Frau bejahte, sprach sie ihr so lange Mut zu, bis diese ihr vertraute, zur medizinischen Untersuchung kam und ihr Kind selbst zur Adoption freigab.

Der zweite Junge, der fünf Tage später in der Babywiege lag, war klein und mager und offenbar schon im Mutterleib unterversorgt. Dank intensiver medizinischer Versorgung konnte er gerettet werden, die Adoptiveltern, sagt Stangl, seien sehr stolz auf ihren kleinen Kämpfer. Zu den beiden Jungen in der Babywiege kommen 40 Kinder, die allein in den vergangenen acht Monaten im Krankenhaus Waldfriede anonym geboren wurden, Oder besser gesagt: anonym geboren werden sollten. Denn bis auf eine Frau entschieden sich alle anderen nach intensiver Beratung doch, Angaben über ihre Identität für das Kind zu hinterlegen.

Babyklappen - Berlin bietet vier anonyme Anlaufstellen, in Neukölln, Spandau, Tempelhof und Zehlendorf.
Babyklappen - Berlin bietet vier anonyme Anlaufstellen, in Neukölln, Spandau, Tempelhof und Zehlendorf.

© dpa

Oft wählen die Mütter sogar die sogenannte halboffene Adoption. Dabei können sie ihre Kinder mindestens zweimal im Jahr sehen und ihnen jederzeit Briefe oder Päckchen schicken. „Und die Kinder wissen von Anfang an, dass es eine Bauchmama und eine Herzensmama gibt“, sagt Gabriele Stangl. Etwa ein Drittel der 40 Frauen, die zur anonymen Geburt ins Krankenhaus kamen, beschloss sogar, ihr Kind doch zu behalten. Darunter eine vierfache Mutter aus schwierigen sozialen Verhältnissen, der man vielfältige Hilfsangebote vermittelt habe.

So etwas könne aber nur erreicht werden, wenn die Frauen erst einmal Vertrauen fassen, sagt Gabriele Stangl. Sie hat in den vielen Jahren, in denen sie Mütter in Not betreut, gelernt, dass es vier unterschiedliche Reaktionen auf ungewollte Schwangerschaften gibt: Die ersten ließen rechtzeitig abtreiben, die zweiten entschlossen sich zu einer anonymen Geburt, die dritten verdrängten das Thema, wählten dann aber die Babyklappe, und die vierten verdrängten ebenfalls, reagierten dann aber panisch und töteten das Kind – aktiv oder passiv.

Um mehr Frauen zu erreichen, müsse man noch mehr als bisher über die existierenden Hilfsangebote berichten, sagt Gabriele Stangl. Und erzählt von einer Schülerin, die sich zunächst über das Internet bei ihr gemeldet habe. Das Mädchen hatte panische Angst, ihrer Umwelt, vor allem ihren Eltern, die Schwangerschaft zu beichten. „So etwas kommt übrigens in den sogenannten besten Familien vor“, sagt Gabriele Stangl. „Es ist keineswegs so, dass dies nur ein Problem der sogenannten sozial Schwachen ist.“

Die 18-jährige Schülerin erzählte ihr, dass sie zu feige sei, allein zu gebären. Später brachte sie ihr Kind im Krankenhaus Waldfriede zur Welt und gab es zur Adoption frei. Wieder zu Hause brach sie nach wenigen Tagen zusammen und vertraute sich ihren Eltern an. Die reagierten ganz anders, als sie befürchtet hatte, und versprachen jegliche Hilfe. Kurz darauf, erzählt Gabriele Stangl, hätten die junge Mutter und die frischen Großeltern das Baby abgeholt – strahlend vor Glück.

Hilfe finden Betroffene rund um die Uhr am Babyklappentelefon 81810335 oder unter www.anonymegeburt-berlin.de.

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