Berlin: Berlin hat gefragt – die Welt antwortet
Vor sechs Monaten fand auf dem Bebelplatz der „Table of Free Voices“ statt. Die Aktion hatte weitreichende Folgen
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Anthony Arnove ist jetzt ein Star. Jedenfalls im Internet. Manche Konsumkritiker und Kriegsgegner kannten den Schriftsteller aus Brooklyn schon vorher – aber auch nur die. Jetzt steht Arnove auf Platz eins. Beziehungsweise seine Antwort auf die Frage: „Was kommt nach dem Kapitalismus?“ In zehn Sätzen schafft es der grauhaarige Mittdreißiger, vor Kriegen und Faschismus zu warnen, Rosa Luxemburg und Friedrich Engels zu zitieren, auf die fortschreitende Umweltzerstörung hinzuweisen, einen kurzen Abstecher in die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts zu machen und das Ganze mit einem motivierenden Ausblick abzuschließen: „Es liegt nur an uns.“ Dann lehnt er sich zurück, genießt die Nachmittagssonne. Seine Nebenleute brauchen wieder mal länger als er.
Anthony Arnove hat das schon vor sechs Monaten gesagt. Und zwar in Berlin. Vorigen September fand auf dem Bebelplatz der „Table of Free Voices“ statt, der „Tisch der freien Stimmen“. 112 Wissenschaftler, Künstler, Philosophen und Schriftsteller hatten sich gemeinsam an einen Tisch gesetzt, um 100 Fragen zu beantworten. Jeder für sich und alle gleichzeitig. Schaulustige konnten aus dem Stimmenwirrwarr keinen klaren Satz heraushören, das war aber auch gar nicht beabsichtigt: Jedes Statement wurde mit Mikrofon und Digitalkamera aufgezeichnet.
Das Ergebnis kann man sich nun auf der Internetseite des Veranstalters „Dropping Knowledge“ ansehen. Wer sich für alle 11 200 gegebenen Antworten interessiert, nimmt dafür besser gleich seinen gesamten Jahresurlaub: 700 Stunden Videomaterial kamen bei der Aktion zusammen. Viele kluge Antworten sind dabei. Und verwirrende. Über die Gedankengänge des Berliner Künstlers Jonathan Meese etwa kann man lange grübeln: Seiner Meinung nach hat die Globalisierung nie stattgefunden, die Menschheit befindet sich in der „Wiege der Antihistorie“, und statt Atombomben solle man lieber die eigene Befindlichkeit fürchten.
Andere machen konkrete Vorschläge, wie die Welt zu retten sei. Einfach den Stecker des Fernsehers ziehen, rät etwa der Amerikaner Bill Joy. Der Mann hat gut reden, er arbeitet in der Computerbranche. Manche Antworten sind erschreckend banal. Auf die Frage, wie man Regierungen vom Kriegführen abhalten könne, antwortet Bianca Jagger: „Wir sollten sicherstellen, dass Menschen wie George W. Bush nicht zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt werden.“ Schwache Leistung für eine, die sich seit langem hauptberuflich für Frieden und Menschenrechte einsetzt. Dann doch lieber eine weitere Jonathan-Meese-Antwort: „Regierungen werden davon abgehalten, dass etwas in den Krieg zieht, wenn man den Krieg sich selbst in den Krieg ziehen lässt.“
Es gibt sowieso keinen Grund, sich über Frau Jagger zu ärgern: Wer es besser weiß, kann seine eigene Antwort ins Internet stellen. Die Aktion auf dem Bebelplatz war nur als Startschuss für das Frage-und-Antwort-Spiel gedacht, jetzt darf jeder mitmachen. Und auch eigene Fragen stellen. Aus den ursprünglichen 100 sind bereits 50 000 geworden. Ob man Günter Grass sein verspätetes SS-Geständnis vergeben solle, wird da diskutiert. Oder wen Pink Floyd eigentlich meinten, als sie sangen: „All in all you’re just another brick in the wall“. Das Schöne an der Seite: Je mehr Antworten gegeben werden, desto deutlicher zeichnet sich ab, was eine richtige Antwort sein könnte. Vielleicht sogar die richtige.
„Dropping Knowledge“ will seine Internetplattform noch ausbauen. Ab dem 26. März gibt es regelmäßig zusätzliche Themenschwerpunkte. Und im Oktober findet ein weiterer „Table of Free Voices“ statt, diesmal in San Francisco. Bis dahin wird im Internet munter weiter diskutiert. Ein Besucher fragt: Was ist Blau? Er wartet noch auf Antworten.
Das Projekt im Internet:
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