zum Hauptinhalt

Berlin: Der geschenkte Schiller

An den Schulen wurde zum Todestag des Dichters ein Gedichtbändchen verteilt – vor hundert Jahren

„Festgemauert in der Erden, steht die Form aus Lehm gebrannt“: Ob das Lied von der Glocke, die Bürgschaft oder beispielsweise die Kraniche des Ibykus – die Kinder haben es Schwarz auf Weiß erhalten. Als Büchlein, mit der versteckten Aufforderung, die Balladen und Gedichte zu lesen und möglichst, zumindest in Teilen, auswendig zu lernen. Nicht für die Schule, sondern – natürlich – fürs Leben.

Die Stadt Berlin zeigt sich großzügig. Sie lässt zum 9. Mai, dem Todestag des Dichters, an Schüler der städtischen Schulen ein kleines Gedichtbändchen verteilen: „Schillers Gedichte – Auswahl“ steht auf dem blütenumrankten Deckblatt. Das Büchlein, bequem in der Schultasche zu tragen, sieht rührend antiquiert aus und hat mehr als 100 Seiten. Es schildert den Lebenslauf des Dichters und stellt die populärsten Gedichte vor, auch weniger Bekanntes wie den Alpenjäger oder die Worte des Glaubens.

Der Bundespräsident, der Schiller und andere Klassiker an den Schulen „neu bekannt machen“ will, könnte sich über Berlin freuen – wenn es nicht schon vor hundert Jahren gewesen wäre. „Meine Mutter, Jahrgang 1882, war 1905 Schülerin einer Abschlussklasse in einer Berliner Volksschule“, teilt die 79-jährige Helga Bernhard aus Konstanz mit. „Vielleicht erinnert sich mancher Berliner daran, dass Eltern oder Großeltern ein solches Büchlein aus dieser großzügigen Aktion besitzen oder besessen haben. Wie viele Exemplare mag es wohl noch geben?“

Und wird es gar eine Neuauflage des städtischen Geschenks vor 100 Jahren zum bevorstehenden 200. Todestag des Dichters geben? Die Schulbehörde anno 2005 reagiert fassungslos: „So etwas ist nicht geplant“, heißt es trocken.

„Es hat Zeiten gegeben, da jeder, der in Deutschland die Schule verließ, eine ganze Menge Zeilen von Schiller auswendig konnte“, erinnert sich Bundespräsident Horst Köhler. „Die eine oder andere Ballade zu lernen und für das Leben zu behalten – ich glaube, das richtet auch heute keinen größeren seelischen Schaden an.“ Die Zeiten der Klassiker-Überfütterung an den Schulen sei endgültig vorbei, „Gott sei Dank“, sagt Köhler. Vielleicht sei den Klassikern am meisten dadurch geschadet worden, dass man sie dazu missbraucht habe, unschuldige Schüler damit zu quälen, die so genannte „richtige Interpretation“ zu liefern.

„ Aber so ganz ohne Kenntnis der Klassiker sollte man doch nicht sein Abitur machen“, mahnt der Bundespräsident. „Wird auch nicht“, beruhigt Moritz Felgner vom Landesinstitut für Schule und Medien. Nach Rücksprache mit Deutschlehrern könne er das guten Gewissens sagen. Gerade im Schillerjahr werde ein „besonderes Augenmerk“ auf des Dichters Werk im Unterricht gelegt. Es ist, beispielsweise, im Rahmenlehrplan für die 10. Gymnasialklasse verankert. Empfohlen werden Wilhelm Tell, die Räuber und Kabale und Liebe.

Die Schüler von heute müssen sich ihren Schiller schon selbst kaufen. Vielleicht finden sie in irgendeinem Keller, einer alten Bibliothek oder irgendeinem Antiquariat noch jenes verblichene Büchlein, das einst seine Urahnen als Geschenk der Stadt Berlin erhielten. C. v. L.

-

Zur Startseite