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Berlin: Der kurze Marsch

Sie kam, siegte und mischte mit: Nur drei Jahre nach ihrer Gründung gelang der Alternativen Liste 1981 der Sprung ins Parlament

Von Sabine Beikler

1978: Öko-Bäckereien, Genossenschaften, Kiezgruppen und Bürgerinitiativen arbeiten verstreut in der ganzen Stadt. West-Berlin war der Inbegriff für ein Lebensgefühl, das gegen alte Normen aufbegehrte. Als sich am 5. Oktober 1978 im Saal der Neuköllner „Neuen Welt“ 3000 Bürgerbewegte, Gewerkschafter, Spontis, linke Anwälte wie der spätere SPD-Bundesinnenminister Otto Schily und K-Gruppen-Aktivisten versammelten und die AL, die „Alternative Liste“, gründeten, dachte wohl niemand an den baldigen Einzug ins Parlament.

Doch die Chance kam schon drei Jahre später. Nach dem Scheitern des rot-gelben Senats unter dem Regierenden Bürgermeister Dietrich Stobbe erreichte die AL 1981 bei den Wahlen 7,2 Prozent. Am 11. Juni trat die AL-Fraktion mit ihren neun Mitgliedern an: Peter Finger, Martin Jänicke, Rita Kantemir, Irmgard Kohlhepp, Manfred Rabatsch, Ursula Schaar, Klaus-Jürgen Schmidt, Peter Sellin und Michael Wendt. Wegen des Beginns der Fußball-WM feiern die grünen AL–„Nachfolger“ 25 Jahre Parlamentsgeschichte schon an diesem Donnerstag.

Mit Fahrradeskorte und dem alten BMW V8 von AL-Landeskassierer Volker Schröder – geschmückt mit der Igel-Standarte – fuhren die frisch gewählten AL-Abgeordneten damals vors Rathaus Schöneberg. „Das war ein unglaubliches Siegesgeschrei. Jetzt konnte uns keiner mehr aufhalten“, erinnert sich Michael Wendt, damals Fraktions- und Parteimitglied mit der Nummer 001. Allerdings habe es noch Monate gedauert, „bis einem die Hand gegeben wurde“.

Für Wendt folgten lange Jahre als Jugendstadtrat in Neukölln und Tiergarten. Heute ist er 50, sitzt im Landesvorstand der Grünen und hofft als „überzeugter Linker“ auf eine Regierungsbeteiligung nach den Wahlen im September.

Vor 25 Jahren war das noch anders. Koalitionen oder Regierungsbeteiligungen lehnte die AL kategorisch ab. Ihr Credo lautete viele Jahre: Das „Spielbein“ ist das Parlament, das „Standbein“ die außerparlamentarische Opposition. Anfang der achtziger Jahre war in der Stadt nach Bau- und Immobilienskandalen um den Architekten Dietrich Garski eine große Aufbruchstimmung zu spüren: Von den „etablierten“ Parteien hatten viele genug, die außerparlamentarische Opposition wurde immer mächtiger: Bürgerinitiativen protestierten gegen den Bau des Kraftwerks Reuter, die Rodung des Tegeler Forsts, Hausbesetzer demonstrierten gegen „Wohnraumvernichtung“ und „Kaputtsanierung“.

Die AL wollte den sozialen Bewegungen im Parlament Gehör verschaffen und „Einfluss nehmen auf politische Entscheidungen“, sagt Manfred Rabatsch. Rabatsch, Sozialpädagoge im Kreuzberger Jugendamt, ein „68er“, wie er sagt, machte damals Stadtteilarbeit und war in der Kinder- und Jugendhilfe aktiv. Er leitete den Jugendausschuss im Parlament bis 1983: Damals rotierten die ALer noch innerhalb einer Legislaturperiode. Genervt habe er die damalige CDU-Senatorin Hanna-Renate Laurien. Rabatsch weigerte sich beharrlich, in seinem Ausschuss über die Einführung der Kita-Gebühren abstimmen zu lassen, die der Senat verabschiedet hatte. Legendär sind seine Wortgefechte mit Klaus Landowsky, damals CDU-Fraktionsvize, den er vor dem Mikrofon als „Herr Landooooofsky“ bezeichnete, was der schlagfertig mit „Herr Rabbatz“ konterte. Heute steht Rabatsch mit 65 kurz vor seiner Pensionierung. Politisch ist er nicht mehr aktiv.

1981 seien die AL-Abgeordneten noch „Exoten“ mit vielen Utopien gewesen, sagt Peter Sellin. Der 57-jährige Wirtschaftswissenschaftler arbeitet heute im Bundestagsbüro der Grünen-Politikerin Christine Scheel. Für den früheren ALer Klaus-Jürgen Schmidt war es damals der „Zeitgeist, in dem Politik gemacht wurde. Nach dem Motto: Alle anderen sind doof, wir machen es anders“, sagt der 52-jährige Büroangestellte. Nicht vergessen aber haben die Ex-Alternativen die Ausfälle von CDU-Hinterbänklern, die der AL-Abgeordneten Rita Kantemir beim Gang zum Mikrofon zuraunten: „Na, dann mal los, Schätzchen.“ Für diesen Spruch habe sich CDU-Fraktionschef Eberhard Diepgen förmlich entschuldigen müssen. Rita Kantemir ist heute 66 Jahre alt und macht ehrenamtlich Flüchtlingsberatung. Ihre damalige Fraktionskollegin Ursula Schaar ist verstorben, von Irmgard Kohlhepp weiß man nichts.

Seine Arbeit in der AL-Fraktion hat Martin Jänicke sehr geprägt. „Ich habe festgestellt, wie wenig Einfluss Parlamente haben.“ Als Politikwissenschaftler und Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen könne er auf Entscheidungen dagegen stärker einwirken.

Dass der damalige Fraktionschef Peter Finger irgendwann „finanziell abrutschte“, wie er dem Tagesspiegel selbst sagte, hatte von den früheren ALern kaum einer mitbekommen. Vor kurzem erhielt Finger eine Bewährungsstrafe wegen veruntreuter Gelder im „Netzwerk Selbsthilfe“. Die Ex-ALer haben nur noch wenig Kontakt untereinander. Viele werden sich bei der 25-Jahr-Feier nach langer Zeit das erste Mal wiedersehen – und sich viel zu erzählen haben.

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