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Berlin: Die Tram – das unterschätzte Risiko

Viele Fußgänger achten zu wenig auf die Straßenbahn und es kommt zu tödlichen Unfällen. Berlin erforscht, warum

Von Annette Kögel

und Werner Schmidt

Meist haben die Fußgänger selbst schuld. Die meisten Passanten und Autofahrer, die in Unfälle mit Straßenbahnen verwickelt werden, missachten das Rotlicht oder sind nicht aufmerksam genug. Die am Sonntagabend in Pankow von einer Straßenbahn angefahrene 58-jährige Frau überquerte die Gleise nur wenige Meter neben einem Fußgängerüberweg. Der Straßenbahnfahrer erkannte die dunkel gekleidete Frau zu spät. Sie erlitt lebensgefährliche Kopfverletzungen. Erst am Mittwoch voriger Woche war ein 54-jähriger Mann zwischen zwei Waggons geraten, überrollt und getötet worden.

Die Tram der Linie 20, gegen die die Frau am Sonntag prallte, war eine der Niederflur-Straßenbahnen, wie sie in Berlin vorwiegend eingesetzt werden. Sie sind besonders leise. Ein Vorteil für Anwohner – aber offensichtlich ein Risiko für die Passanten. Sie überhören die Bahnen oft. Zudem wird der Schall vielerorts durch das so genannte „Grüne Gleis“ reduziert: Rasen und Pflanzen zwischen den Schienen schlucken einige Dezibel. Die Gleise seien aber für Passanten trotzdem gut zu erkennen, sagte Markus Hecht, Professor für Schienenfahrzeuge im Institut für Land- und Seeverkehr der TU Berlin. Die Niederflurbahnen besitzen dem Experten für Straßenbahnsicherheit zufolge einen Unterfahrschutz: „Die Ummantelung unten am Fahrzeug kann fast mit dem Daumen eingedrückt werden.“ Bei den alten Modellen aus DDR-Zeiten gebe es so einen Aufprallschutz nicht. Ob die Farbe der Trams aggressiver sein sollte? Markus Hecht verneint. Studien aus London hätten ergeben, dass das Signalgelb die Farbe mit dem höchsten Aufmerksamkeitswert sei. Verstärktes Hupen oder Klingeln? Für die Fußgänger vielleicht, sagt Hecht – „aber den Anwohnern ist das wohl nicht zuzumuten“. Um das Unfallrisiko zu senken, beteiligt sich Berlin mit Paris an einem internationalen Forschungsprojekt zur Straßenbahnsicherheit. Paris und London führen das als umweltfreundlich und leistungsfähig gelobte Verkehrsmittel neu ein.

In Berlin werden die Bahnen von vielen offenbar unterschätzt. Eine Straßenbahn, die mit Tempo 50 fährt, kommt erst nach über 54 Metern zum Stehen, sagte BVG-Sprecher Wolfgang Göbel. Und ein Verkehrsexperte der Polizei wunderte sich: „Bevor sie auf die Straße treten, schauen die Leute sich um. Bei der Tram guckt keiner. “ Seit 1995 sinkt die Zahlen der Unfälle mit Straßenbahnen zwar. Dennoch starben 2003 vier Menschen: drei Fußgänger und ein Radfahrer. Im Jahr davor gab es sogar fünf Tote. Drei Fußgänger hatten das Rotlicht missachtet, bei einem Zusammenstoß zwischen Tram und einem Auto starben im Auto zwei Kinder. Die Fahrerin hatte das Rot der Ampel ignoriert. Von Januar bis November 2003 wurden 364 Unfälle mit Straßenbahnen gezählt, 2002 waren es im gleichen Zeitraum 410.

In Stuttgart und München sind tödliche Straßenbahnunfälle selten: In München legte sich 2003 ein Betrunkener auf den Schienen zum Schlafen und wurde überfahren. In Stuttgart starben 2003 keine Passanten, aber zwei Autofahrer. Einer missachte das Rotlicht einer Ampel, der zweite übersah beim Wenden die Straßenbahn.

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