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Autor Rei Gesing hat für sein Buch Hochbetagte wie Gerda Piasta interviewt.

© promo

Senioren erzählen: Die Weisheit der 100-Jährigen

Rund 1000 Menschen in Berlin sind mehr als 100 Jahre alt. Hier geben fünf von ihnen Tipps für ein gutes Leben

Hundert Jahre, das klingt nach Ewigkeit. Wer heute 100 Jahre alt ist, wurde zu Beginn der Weimarer Republik geboren, kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs, die Nazizeit erlebte er als Teenager, den Zweiten Weltkrieg als junger Erwachsene. Oder vielmehr: sie. Denn diese magische Zahl erreichen deutlich mehr Frauen als Männer. 1025 Berlinerinnen und Berliner waren im vergangenen Jahr 100 Jahre alt – oder sogar noch ein bisschen älter. Weniger als ein Viertel sind Männer, 229 waren es im vergangenen Jahr, Wilhelm Dodenhoff könnte sich im nächsten Jahr dazugesellen. Noch zählt er zu den immerhin 5605 Berlinern, die 2018 zwischen 95 und 100 Jahre alt waren – und 27.692 sind zwischen 90 und 100. Sie alle haben ihre ganz persönlichen Geschichten zu erzählen. Einige hat Rei Gesing in seinem Interview-Buch „Die Weisheit der 100-Jährigen“ gesammelt, aus dem wir hier Auszüge veröffentlichen.

Anna Bucher

Anna Bucher wurde 1910 in Eisenfurt geboren und war zunächst als Dienstmädchen tätig. Später heiratete sie und bekam eine Tochter. Sie lebt in einer Seniorenresidenz in Berlin.

Was ist Ihrer Auffassung nach das Wichtigste im Leben?

Aktiv sein, in Bewegung sein, viel arbeiten, etwas schaffen, etwas verändern! Man ist doch nicht lebendig, um rumzusitzen und Däumchen zu drehen. Das Leben ist nur schön, wenn darin auch etwas passiert. Und das müssen auch gar nicht immer so große Sachen sein; die Kleinigkeiten können auch etwas bewirken und sehr schön sein.

Was bedeutet Glück für Sie?

Wenn man die alltäglichen Bedürfnisse stillen kann, ist das schon sehr viel! Das wisst ihr Jungen gar nicht mehr zu schätzen. Wie viele Menschen mögen wohl davon träumen, dass es ihnen nur einen Tag im Leben so gut ginge wie uns hier!?

Hildegard Kinschert

Hildegard Kinschert wurde 1915 in Berlin geboren. Dort hat sie ihr gesamtes Leben verbracht. Sie war verheiratet und arbeitete als Sachbearbeiterin in verschiedenen Büros. Ihre beste Freundin Inge besucht sie fast täglich.

Was ist Ihrer Auffassung nach das Wichtigste im Leben?

Zu den wichtigsten Dingen zählt natürlich eine stabile Gesundheit und ein robustes Immunsystem zu haben. Ein bisschen Geld ist auch nicht schlecht, damit man nicht darben muss. Aber noch viel wichtiger ist, dass man, wann immer man möchte, in der Natur sein kann. Das ist wichtig sowohl für den Körper als auch für die Seele.

Was raten und wünschen Sie den heute jungen Menschen?

Ich rate alles zu meiden, was abhängig macht. Zigaretten, Alkohol und auch dieses Gift, die Drogen. Am besten alles weglassen. Und stattdessen gesundheitsbewusst und naturverbunden leben. Nur leider hören die Jungen da sowieso nicht drauf und machen doch, was sie wollen. Aber das ist wohl auch normal und gut so. Wir waren doch auch mal jung.

Was ist Ihrer Ansicht nach der Sinn des Lebens?

Dass man alles, was man erlebt, auch bewusst erlebt und immer ganz bei dem ist, was man gerade tut. Wenn man immer klar und wach und aufmerksam ist, macht das Leben viel mehr Spaß. Jetzt im Alter erinnert man sich an all die vielen bewussten und intensiven Erfahrungen und trägt einen Schatz in sich, den Schatz der Erinnerungen.

Elfriede "Elli" Zakrynski

Elfriede Zakrynski, geboren 1917 in Berlin, musste schon mit 13 Jahren die Schule verlassen, um Geld zu verdienen. Sie arbeitete als Konditoreiverkäuferin, heiratete und bekam einen Sohn, ihr Ehemann fiel im Zweiten Weltkrieg. Sie erinnert sich gerne an viele schöne Reisen mit der Familie und später mit ihrem Lebensgefährten.

Wie haben Sie in Ihrem Leben Stress, Ärger, Ängste, Konflikte und Krisen bewältigt?

Ich habe immer versucht, meinen gesunden Menschenverstand zu benutzen und klug und besonnen zu handeln. Dann trifft man auch die richtigen Entscheidungen und hat hinterher keinen Ärger und keine großen Konflikte. Und manchmal sagt man auch einmal ein falsches Wort oder einen falschen Satz, weil man wütend ist oder verletzt oder einfach, weil man recht haben will. Das kommt ja vor, wir sind ja alle nur Menschen. Wichtig ist, dass man hinterher den Kopf unter den Arm nehmen kann und um Entschuldigung bitten kann.

Was raten und wünschen Sie heute jungen Menschen?

Esst weniger Fleisch! Oder gar keins, wenn ihr ohne leben könnt. Oder versucht wenigstens den Fleischverzehr ganz deutlich zu reduzieren. Die Massentierhaltung muss aufhören. Das Leiden von den Schweinen und Hühnern, das muss aufhören! Diese armen Geschöpfe, das macht mich so traurig.

Was ist Ihrer Ansicht nach der Sinn des Lebens?

Klug und vernünftig handeln, um mehr Ruhe und Nächstenliebe in die Welt zu bringen. Wir müssen mehr Liebe in diese Welt, unter die Leute, in die Gesellschaft bringen. Der Sinn des Lebens ist die Liebe. Was denn sonst?

Wilhelm Dodenhoff

Wilhelm Dodenhoff wurde 1920 in Sottrum geboren. Mit 19 Jahren wurde er eingezogen, zwei seiner Brüder fielen im Zweiten Weltkrieg, er selbst wurde verwundet. Später war er 28 Jahre lang Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er im Alter von 66 Jahren erneut, seine zweite Frau verstarb 2001.

Warum, glauben Sie, sind Sie so alt geworden?

Ich habe alle mir gestellten Aufgaben immer mit großer Freude erfüllt. Ich bin immer neugierig geblieben. Sehr neugierig - ich wollte immer, und will auch heute noch, wissen, was um mich herum und in der Welt passiert. Gearbeitet habe ich noch bis zum 75. Lebensjahr. Danach war ich dann noch bis zu meinem 80. Geburtstag als Gutachter tätig. Meine berufliche Tätigkeit war sehr erfüllend. Ich habe einfach gerne gelebt; hatte Freude an der Arbeit wie am Leben im Allgemeinen.

Was ist Ihrer Auffassung nach das Wichtigste im Leben?

Die Kinder auf den Weg bringen und fördern, aber auch andere Menschen. Sie, die Kinder wie auch andere Menschen, für die man Verantwortung trägt, dürfen wir aber nie zu etwas zwingen. Denn es ist wichtig, dass sie überzeugt sind von dem, was sie tun.

Gerda Piasta

Gerda Piasta wurde 1914 in Berlin geboren. Als Kleinkind verlor sie ihren Vater, der im Ersten Weltkrieg fiel. Sie erlernte den Beruf der Schneiderin und betrieb später einen über die Grenzen Berlins hinaus bekannten Modesalon als Inhaberin betrieb. Sie arbeitete bis zu ihrem 70. Lebensjahr in ihrem Schneideratelier und begann im Ruhestand zu malen.

Was ist Ihrer Auffassung nach das Wichtigste im Leben?

Glücklich zu sein! Man muss selber dafür sorgen, dass man glücklich ist. Ich wollte unbedingt Kinder haben, weil ich wusste, dass mich das glücklich machen würde. Obwohl alle mir abgeraten haben mit „Bist du verrückt? Du willst jetzt mitten im Krieg Kinder?“, bin ich in einer der schlimmsten Bombennächte Mutter geworden. Das war am 12. September 1944.

Was raten und wünschen Sie den heute jungen Menschen?

Sich einen Beruf suchen und finden, der einem Spaß macht; aber auch einmal außerhalb des Berufes für ein bisschen Abwechslung sorgen. Ich habe immer viel Sport getrieben. Gymnastik und auch Schwimmen. Und sucht euch Freunde! Pflegt eure Freundschaften. Ihr müsst euch auch einmal zurücknehmen können und nicht immer recht haben wollen.

Der Autor

Rei Gesing, Jahrgang 1973, lebt in Münster. Er arbeitet als Autor und Unternehmensberater. Zunächst studierte er Agrarwirtschaft, um den landwirtschaftlichen Familienbetrieb zu übernehmen. Nach einem Sabbatical orientierte er sich neu, bildete sich weiter und gründete ein Institut für psychologische Unternehmensberatung. Außerdem hat er Lyrikbände, Prosa und Ratgeber geschrieben, unter anderem zur Burnout- Prävention. Der vierfache Vater engagiert sich auch ehrenamtlich, zum Beispiel als Betreuer für die Aidshilfe.

Das Buch

Für sein Buch „Die Weisheit der 100-Jährigen – 7 Fragen an die ältesten Menschen Deutschlands“ (Solibro Verlag, 160 Seiten, 30 Euro) ist Gesing durch ganz Deutschland gereist und hat 36 Frauen und Männer im Alter von 99 bis 112 interviewt. Bebildert ist das Buch mit Zeichnungen des Grafikers André Kröker, der alle Interviewten porträtiert hat. (Tsp)

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