Berlin: Edgar Maul (Geb. 1948)
Sie schnitzen Boote aus Holz, standen in Gummistiefeln im See.
Es hat einen Tag gegeben vor 27 Jahren, an dem ist Edgar Maul, von allen immer Eddi genannt, mit seinen Söhnen und deren Freunden rausgefahren an den See. Eddi, vier kleine Jungs in Gummistiefeln mit dicken Jacken an und Wollmützen auf dem Kopf, ein Tag im Oktober, nicht golden, neblig. Sie fuhren an einen See in der Nähe von Zossen und blieben ein paar Tage lang im Bungalow am Waldrand mit Blick aufs Wasser. Kiefern, Zugvögel, frühe Dunkelheit. Die Jungs bekamen Taschenmesser, ihre ersten Taschenmesser, Eddi brachte ihnen das Schnitzen bei. Sie schnitzen Boote aus trockenem, weichem Holz, standen in Gummistiefeln im See, ließen die Boote zu Wasser. Sie rannten, kämpften, gingen zu Boden vor Lachen, standen wieder auf, rannten weiter, da war niemand sonst, nur Eddi und die vier kleinen Jungs; als die Dämmerung über den See kam, hängten sie im Bungalow ihre nassen Sachen über den Ofen und aßen zusammen Abendbrot, Stullen, und Pfefferminztee dazu.
Eddi war um die dreißig damals, das mögen die glücklichen Jahre gewesen sein, die guten Tage. Zwei Söhne und eine schöne und lebenslustige Frau, eine große Wohnung in der Kastanienallee am Prater, Prenzlauer Berg, Arbeit als Wirtschaftsingenieur, nebenbei als Gärtner im Prater, da war er alleine an jedem Sonntagmorgen, und die Jungs waren dabei, und Eddi war ihr Löwenbändiger, Räuberhauptmann und General.
Edgar Maul, den alle immer Eddi nannten, war jemand, dem das komplexe, widersprüchliche, erwachsene Denken fremd war. Vielleicht war er deshalb glücklich mit den Jungs und die Jungs glücklich mit ihm. Für seine Frau sah das anders aus, irgendwann wollte sie so nicht weiter, oder sie wollte was anderes, und Eddi wollte, als sie ging, sein ganzes Leben nicht mehr, jedenfalls dieses nicht mehr, diesen enttäuschten, zerbrochenen Versuch. Er stellte einen Ausreiseantrag, kam ins Gefängnis, wurde freigekauft, verließ die DDR, ging nach Hessen, eine Weile, dann nach Berlin, nach West-Berlin.
Er zog nach Neukölln, nah am Kanal, nah an der Mauer, an den Aussichtstürmen mit dem Blick nach drüben, ob bewusst oder unbewusst bleibt offen. Arbeitete als Versicherungsvertreter mit mäßigem Erfolg, versuchte ein Leben mit anderen Frauen und ließ es wieder sein, fuhr nicht in den Urlaub, fuhr nicht an den See, in West-Berlin gab es Seen, aber keine Ferne, keine Felder, keine staubigen Landstraßen und keine Gesellschaft.
Seine Söhne, die Freunde der Söhne, jene kleinen Jungs in Gummistiefeln mit Zahnlücken, die Zwerge, wie er sie nannte, die Zwerge sah er erst wieder, als sie groß waren, erwachsen, fremd. Mag sein, dass man ihn oft nach dem Bedauern gefragt hat, nach der Reue über diese Entscheidung, mag sein, dass er etwas darauf antworten konnte, eher aber wird er geschwiegen haben, rückgängig zu machen war das alles nicht.
Die Mauer fiel, Eddi blieb in Neukölln, er versuchte es mit den Söhnen, und die Söhne versuchten es mit ihm. Er wurde ein spätes Mitglied einer neuapostolischen Gemeinde, vielleicht hat er mit dem Pfarrer sprechen können über das Steine sammeln, Steine zerstreuen. Für die Gemeinde war er ein Geschenk, sein offenes, freundliches und schönes Wesen hat er sich bewahrt. Was er denn tun müsse, um sich Gott zuzuwenden, hat er den Pfarrer gefragt, nichts, hat der Pfarrer gesagt, wer den Menschen zugetan sei, der sei auch Gott zugetan. Ist also alles gut?, mag Eddi sich da gefragt haben, die alte Kinderfrage, die nicht zu beantwortende.
Sein Herz hat plötzlich zu schlagen aufgehört, kurz vor dem sechzigsten, den er hätte feiern wollen mit vielen anderen. Schluss.
Damals, am See im Oktober vor 27 Jahren, hatten Eddi und die Jungs die selbst geschnitzten Boote mit Paketschnur angebunden zu Wasser gelassen und sie immer wieder zurückgeholt. Aber am Ende ließen sie sie ziehen. Kleine Schnitzboote trieben weit auf den dunklen See hinaus, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dora Winkelmann
Dora Winkelmann