Berlin: Ernst-Joachim Wulbrede (Geb. 1950)
Er balancierte im zweiten Stock auf einer Leiter von Balkon zu Balkon
Seine Freunde nannten ihn nur Ernie. Und Ernie hatte ausschließlich Freunde. Auf der Traueranzeige stehen sämtliche Namen der Bewohner des Hauses am Lausitzer Platz in Kreuzberg. 29 Jahre hat er dort gelebt. Zusammen mit Marianne, der Liebe seines Lebens.
Als die beiden die Wohnung besichtigten, befand sich im Haus ein Bordell. Der Vermieter verlangte nach einem Trauschein. Unverheiratete Paare bekamen bei dem partiell sittenstrengen Herrn grundsätzlich keinen Vertrag. Marianne und Ernie besorgten sich die Schlüssel und die Kontonummer der Hausverwaltung von einem Nachbarn und zogen einfach ein. Die Miete überwiesen sie stets pünktlich, darauf kam es an.
Heiraten wollten sie sowieso: Sie kannten sich gerade mal eine Woche, da fragte Ernie Marianne, ob sie ihn ehelichen wolle. Der Grund war einfach: „Ob wir das jetzt machen oder in einem Jahr, ist doch egal!“
Er kam aus Trier, der Vater war Polizist, die Mutter Hausfrau. Nach seiner Fotografenlehre zog er nach Köln, um Film- und Fototechnik zu studieren. Als er mit seiner damaligen Freundin an einem späten Abend heimkam, stand die Feuerwehr in der Straße. Auf dem Pflaster lagen die Reste ihres Hausstandes, die Wohnung war komplett ausgebrannt und die Beziehung irgendwie auch.
Ernie wagt den Neuanfang in West-Berlin. Wo er Marianne begegnet. Sie will wissen, ob er zu ihr hält, bedingungslos. Natürlich tut er das. Als sie aufhört zu rauchen, hört auch er auf. Sie machen viele Reisen, die erste nach Griechenland. Nach Afrika und Asien fahren sie oft, vor allem nach China. Die letzte Reise geht auch dorthin, mit dem Flugzeug nach Peking, zurück nach Berlin mit der Eisenbahn. Da ist Ernie schon sehr krank, braucht viel Ruhe, möglichst ein eigenes Abteil.
Viele große Fahrradtouren unternehmen sie, gern auch in der Eifel, seiner alten Heimat. Ernie ist sportlich, er träumt vom Triathlon. Daraus wird zwar nichts, aber am Marathon nimmt er regelmäßig teil. Wann immer sie in Deutschland die 42 Kilometer laufen, er ist dabei.
Trotz seiner zierlichen Gestalt ist Ernie kräftig. Er packt überall mit an, trägt Waschmaschinen, verlegt Kabel, balanciert im zweiten Stock auf einer Leiter von Balkon zu Balkon, um keinen Schlüsseldienst holen zu müssen. Wenn etwas nicht funktioniert, wissen die Nachbarn Rat: Fragen wir Ernie! Er ist der inoffizielle Hauswart, kümmert sich um Taubenvergrämung und eine vernünftige Schließanlage. Dafür erlaubt ihm der Vermieter, im Dachboden ein Fotolabor einzurichten.
Ernie fotografiert bei jeder Gelegenheit – und auch in den letzten Jahren ausschließlich mit Film. Er ist misstrauisch gegenüber der neuen, digitalen Technik. Am Computer kann man viel zu viel manipulieren, findet er.
Ein Vierteljahrhundert lang betreut Ernie die Mediathek der Friedrich-List- Schule in Schöneberg, einem Oberstufenzentrum für Wirtschaftssprachen. Ernie mag die Atmosphäre in dem Haus. Nirgends gibt es Schmierereien, auf den Fluren grüßt man sich. Er wird respektiert, seine Hilfsbereitschaft geschätzt. Wenn einer der Lehrer, „meiner Lehrer“, wie er sagt, mal wieder ein Gerät für kaputt hält, weil er vergessen hat, es einzuschalten, bleibt Ernie höflich und verständnisvoll. Nie würde er jemanden von oben herab behandeln, weil er etwas besser weiß. Die Augenhöhe soll dieselbe sein, mit jedem, immer und überall.
Als sein Schwager beerdigt wird, plagen Ernie heftige Bauchschmerzen. Die Diagnose ahnt er, bevor sie ausgesprochen wird: Darmkrebs. Ernie gibt nicht auf, er liebt sein Leben. Zum Glück muss er keine einzige Nacht im Krankenhaus verbringen. Die ersten zwei Jahre fährt er mit dem Rad zur Chemotherapie, später mit dem Auto, dann mit der U-Bahn. Als ihm das Treppensteigen zu große Mühe bereitet, nimmt er den Bus. Er legt Wert auf die Normalität. Und arbeitet weiter, solange es geht. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Wenige Wochen vor seinem 60. Geburtstag gibt Ernies Körper den Kampf auf. Bei seiner Trauerfeier hören Freunde und Familie das Lied von Led Zeppelin über die Treppe in den Himmel. Ernie hat es sich gewünscht. When all are one and one is all / To be a rock and not to roll. Thilo Bock