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Fahrradfahrer und Fußgänger auf einem engen Bürgersteig in Berlin.

© imago

Fahrradfahrer sind nur eine Minderheit: Mit dem Rad gegen die Wand

Ein Verkehrsmittel steht in Berlin ganz oben, der Rest muss sich unterordnen – zum Schaden der Mehrheit, kritisiert der Fußgängerverband. Ein Gastbeitrag.

Kreuzberg, oberer Mehringdamm: Lange genossen die Menschen eine großzügige, grüne, mehr als fünf Meter breite Promenade – rege begangen zwischen U-Bahn und Bergmannkiez. Doch jetzt herrscht Gedrängel, denn die Hälfte wird Radweg. Invalidenstraße Ecke Heidestraße: Auf dem Weg zum Hauptbahnhof ist der Gehweg fast verschwunden – eine rot gefärbte Radkreuzung hat ihn okkupiert und unterbrochen. Uferwege an der Spree in Charlottenburg oder am Teltowkanal in Steglitz: Anstelle lauschiger Pfade drohen asphaltierte Radpisten, vierspurig zum dynamischen Überholen.

Das alles sind Vorboten der fahrradgerechten Stadt, einer auf den ersten Blick guten Sache. Sie soll die autogerechte Stadt ablösen, die in Lärm, Dreck, Staus, Unfällen und Platzverschwendung geendet und die sogar ihr Kernversprechen gebrochen hat: mehr Menschen Mobilität und Bewegungsfreiheit zu bringen.

In Berlin hemmen heute 33 Prozent der Verkehrsteilnehmer im Auto immer wieder die 67 Prozent, die anders unterwegs sind. Die Mehrheit drängelt sich am Fahrbahnrand zwischen parkenden Autos, sie zittert auf dem Rad, sie steht im Bus im Stau oder verpasst die Tram, weil die Ampel zur Haltestelle auf Dauerrot steht.

Die fahrradgerechte Stadt verspricht Besserung. Doch sie wiederholt den Kardinalfehler der autogerechten Stadt – sie stellt ein Verkehrsmittel über alle anderen. Es droht die gleiche Folge: Was die radfahrende 15-Prozent-Gruppe an Mobilität gewinnt, verliert die 52-Prozent-Mehrheit, die zu Fuß, per Bus und Bahn unterwegs ist. Auf der Busspur kann ein Fahrrad 80 Passagiere ausbremsen.

Zwölf Räder für zwanzig Pendler

Führt durch die Haltestelle ein Radweg, wird das Ein- und Aussteigen zum bedrohlichen Abenteuer. Im Zug beansprucht ein Mensch mit Rad so viel Raum wie drei Menschen ohne. Aus Regionalbahnen baut man Sitze aus: Damit am Wochenende zwölf Räder mehr mitkönnen, müssen Montag bis Freitag zwanzig Pendler mehr stehen. Das Tückischste ist aber, dass Fahrrad und neuerdings E-Scooter die Rückzugs- und Schutzräume nehmen, die das Auto noch gelassen hat.

Teils legal, viel öfter illegal dringen sie überall ein: auf Bürgersteige, in Parks und Bahnhofshallen, auf Uferwege und Spielwiesen. Die allgegenwärtigen Fahrzeuge vernichten sicheren und entspannten Stadt- und Grünraum. Es geht hier nicht um ein paar harmlose Kinder- oder Rentner-Räder. Die heute favorisierten „S-Pedelecs“ sind faktisch Mopeds, mit legalem Stromantrieb bis Tempo 45. Lastenräder sind SUVs mit Pedalen: Paketräder von DHL oder Hermes sind bis zu 4,65 Meter lang.

Die Stadtautobahn wird vom Radschnellweg abgelöst

Groß denken! Für Berlins Verkehrsplaner war einst die Stadtautobahn das Symbolprojekt der herrschenden Ideologie. Jetzt wird es ziemlich bruchlos vom Radschnellweg abgelöst. Dessen Zerstörungswirkung kann zwar nie mit der einer Autobahn mithalten – aber die Planer bei der Senatstochter GB infraVelo GmbH tun ihr Möglichstes, mit den gleichen Worten wie ihre Opas aus der Opel-Kadett-Generation: „Ziel ist es, dass die Strecken zügig, also auch mit hohen Geschwindigkeiten und ohne Zwischenstopps gefahren werden können.“

Dafür greift man auf Parks oder auf Grünzüge am Wasser oder an der Bahn zu. Die breit geplanten Radpisten erfordern Säge-Massaker an den Seiten, Spundwände anstelle von Böschungen, Asphalt statt Schotter und Laternen für den Nachtverkehr. Für Fußgänger sind sie verboten; die bekommen mit Glück einen Pfad nebendran.

Das Fahrrad ist ein Verkehrsmittel für Minderheiten

Das Rad fing als sanfte Alternative zum Auto an, inzwischen strebt seine Lobby mit der gleichen Haltung nach Dominanz: Wir sind die Zukunft, wir sind die Guten, und wenn die Stadt für uns optimiert ist, dann fahren alle Rad und sind glücklich. Aber genau wie das Auto wird das Fahrrad ein Verkehrsmittel für Minderheiten bleiben.

Selbst im Rad-Paradies Amsterdam schafft es nur 22 Prozent aller Wege, die Hälfte mehr als in Berlin. Radverkehr stößt immer wieder an Grenzen – Wetter, Alter, Müdigkeit, große Entfernungen, voluminöses Transportgut und mehr. Berlins Mobilitätswende kann nur gelingen, wenn sie die stadtfreundlichen Verkehrsmittel der Mehrheit stärkt.

Paris als Vorbild

Nur schnelle Bahnen bieten Alternativen zu den klimaschädlichen Auto-Langstrecken – 40 Prozent der Fahrten in Berlin sind über zehn Kilometer lang. Bahnen, Busse und ihre Passagiere brauchen Priorität auf Wegen, an Kreuzungen und Haltestellen. Und wir brauchen eine klare Ordnung: alle Räder auf die Fahrbahnen, ob fahrend oder stehend, und Gehwege nur für Füße.

Da lohnt ein Blick ins viel vollere, engere Paris. Vier Fünftel des Stadtverkehrs laufen per Bahn und zu Fuß, der Autoanteil ist nur halb so hoch wie in Berlin. Der Radverkehr wächst, aber zivilisierter als bei uns. Und nicht zuletzt sind die Flaneure rigoros geschützt: Wer sie auf dem Boulevard mit einem parkenden oder rollenden Fahrzeug belästigt, zahlt 135 Euro.

Roland Stimpel ist Stadt- und Regionalplaner und Sprecher des Fußgänger-Verbandes FUSS e.V..

Roland Stimpel

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