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Berlin: Fürs Leben lernen von Schauspielern und Köchen

Kreuzberger Jugendliche gehen hinaus in die Praxis und sollen sich dort beweisen

Die Schule: Die Ferdinand-Freiligrath-Oberschule ist Haupt- und Realschule an der Kreuzberger Bergmannstraße. Von 275 Schülern sind etwa 70 Prozent nicht deutscher, vor allem türkischer Herkunft. Als die Schulleiterin Hildburg Kagerer in den 80er-Jahren als Schulpsychologin an die Schule kam, fand sie eine typische Hauptschule in einem sozialen Brennpunkt vor, sämtliche Probleme inklusive. Inzwischen ist die Schule eine der am häufigsten porträtierten der Republik. Zu Recht: Schon seit Beginn der 90er-Jahre wird hier so ziemlich alles anders gemacht.

Das Besondere: In der Freiligrath-Schule wird jeder Schüler im Wort- wie im übertragenen Sinne „in die Arena geschickt". „Das Allerwichtigste ist, Schüler zu selbstständigen Menschen zu machen", sagt Schulleiterin Hildburg Kagerer. Das heißt: Anstatt auf ihre Schwächen hinzuweisen, setzt man auf ihre Kompetenzen und schickt sie an einen Ort, an dem sie sich präsentieren und beweisen müssen wie im echten Leben. 14 von 30 Stunden in der Woche (der Rest ist normaler Unterricht) besuchen die Schüler eine von sieben „Arenen“, die sie sich nach intensiven Gesprächen mit der Schulleitung für mindestens ein Schuljahr ausgesucht haben.

Sind sie schauspielerisch begabt, gehen sie in die Arena „Bühne“. Handwerklich geschickte oder Schüler, die gerne kochen, entscheiden sich für „Wirtschaft und Produktion“, Sportliche für „Stadion“. Dort treffen sie auf die so genannten „Dritten“. Dritte sind keine Lehrer, sondern zum Beispiel Schauspieler, Bildhauer, Mechaniker oder Köche, die in das Schulleben einbezogen werden.

In den Arenen wird 14 Stunden lang geturnt oder getanzt? Falsch. Dort wird all das, was man sonst im Unterricht macht, Deutsch, Englisch, Mathe oder Naturwissenschaften, sozusagen in der Praxis – und jahrgangsübergreifend von der 7. bis zur 10. Klasse – gelernt.

Die „Bühne“-Truppe rund um den türkisch-deutschen Schauspieler Deniz Döhler lernt Englisch für das nächste Stück. Nebenan wird vielleicht gerade Mathe gepaukt – damit das geplante Modell im Innenhof auch stehenbleibt und nicht windschief wird.

Was die an einer Kreuzberger Hauptschule notorisch schlechten Deutschkenntnisse und die Lesekompetenz angeht, hat man sich in diesem Schuljahr etwas Neues einfallen lassen. Jeder neue Schüler macht einen umfangreichen Sprachstandstest, in dem er sich mit Hilfe eines Lehrers entlang von Fragen wie – „Finde ich mich in einem Formular/einer Speisekarte/einem Zeitungsartikel zurecht?“ – selbst einschätzt. „Wer sich selber Ziele setzt, will diese auch erreichen“, sagt die Schulleiterin. Die Ergebnisse werden in ein „Logbuch“ eingetragen, das den Schüler durch seine Schulzeit begleitet und in dem fortan vermerkt wird, was man gelernt, gelesen, geschrieben hat.

Seit 1990 wird an der Freiligrath-Oberschule an dem Konzept „Schule = Schüler + Lehrer + Dritte“ gearbeitet. Erst halfen Sponsoren, später wurde das Projekt zum Modellversuch der Bund-Länder-Kommission. 2000 ging die Schule in einen Schulversuch der Senatsverwaltung über.

Für die Leiterin Hildburg Kagerer, deren Engagement vieles erst ermöglichte, ist es ein absolutes Muss, dass sich Schulen öffnen: „Dritte tun den Schülern gut, weil sie aus dem wirklichen Leben kommen. Die Lehrer zwingen sie dazu, ihr Tun immer wieder zu überprüfen. Kurz gesagt: Sie bringen den Rhythmus durcheinander. Und das ist gut so.

Eltern und Schüler: Der Sohn von Ralima Merasi kam auf seiner alten Schule überhaupt nicht zurecht. „Ständig gab es Ärger", sagt die Mutter, „er fühlte sich unterdrückt, ging ungern aus dem Haus. Still sitzen konnte er auch nicht.“

An der Ferdinand-Freiligrath-Schule sei alles einfacher: „Die Arenen sind ein echter Segen für ihn. Dort wird er gefordert, ohne ständig das Gleiche zu tun.“ Arjeta Berjasevic, die jetzt in der 9. Klasse ist, schätzt vor allem, dass in den Arenen alle zusammenkommen. „Mit Älteren ist das nochmal anders als mit Gleichaltrigen, sie bringen einen weiter - und außerdem habe ich auch ältere Freunde.“ Jeannette Goddar

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