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Der ADFC stellt die Geisterräder eigenständig nach tödlichen Unfällen auf.

© Soeren Stache/dpa

Gedenktag für Straßenverkehrsopfer in Berlin: „Jacob war auf der Hauptstraße, er hatte Vorfahrt“

Vor neun Jahren hat Astrid Burkhardt ihren Sohn verloren. Geisterräder erinnern an bei Unfällen gestorbene Radfahrer. Sie sind nicht nur für Angehörige wichtig – doch oft werden sie beschädigt.

Wohin der Blick im Haus von Astrid Burkhardt auch wandert, es dauert nicht lange, bevor er auf das Gesicht von Jacob fällt. Eingerahmt als Bild auf der Kommode, als bedrucktes Teelicht auf dem runden Tisch, dreidimensional in einem kleinen beleuchteten Glaskubus. In seinem Elternhaus zeugt Jacobs Allgegenwart von seinem Fehlen.

Der 15. November ist ein Gedenktag für Straßenverkehrsopfer, aber Astrid Burkhardt braucht dafür keinen Termin. Die Erinnerung an ihren Sohn begleitet sie jeden Tag. Sie bleibt, indem Burkhardt über ihren Sohn spricht und öffentlich seine Geschichte erzählt. „Das ist meine Art der Aufarbeitung“, sagt die 59-Jährige.

„Vor zwei Jahren hatte ich selbst einen Fahrradunfall“, erzählt sie. Eine Autofahrerin, die gerade aus der Einfahrt kam, erwischte sie am Hinterrad. Burkhardt stürzte. „In dem Moment wusste ich, was in Jacob damals vorging. Als ich im Krankenwagen lag, da kam es über mich. Der Rettungssanitäter hat gefragt, was denn los sei. Ich habe ihm nur gesagt: Ist eine andere Sache.“

In ihrem Zuhause im brandenburgischen Wildau erinnert sich Astrid Burkhardt.
In ihrem Zuhause im brandenburgischen Wildau erinnert sich Astrid Burkhardt.

© Marian Schuth

Die „andere Sache“ geschah am 29. September 2011. Der 23-jährige Jacob fuhr mit seinem brandneuen Sportfahrrad in Friedrichshain auf eine Kreuzung zu. „Er fuhr gerne schnell“, sagt seine Mutter. Die Ampeln waren aus, blinkten nur. „Jacob war auf der Hauptstraße, er hatte Vorfahrt.“ Er fühlte sich sicher, fuhr weiter, als von links ein schwarzer Mercedes auf ihn zukam. Vollbremsung. Er stürzte. Einen Tag später, am 30. September 2011, starb er im Krankenhaus an seinen Verletzungen.

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Die Polizei zählt für 2020 bisher 45 Verkehrstote, darunter 15 Fahrradfahrer. Hinter den Zahlen stehen verstorbene Freunde, Familienmitglieder und Partner, deren Angehörige ihren Verlust verarbeiten müssen.

Geisterräder bleiben rund ein Jahr an den Unfallstellen stehen

Vielen hilft dabei ein Ritual des ADFC. Seit 2009 stellt der Fahrrad-Club in Berlin sogenannte Geisterräder – vollständig weiß eingefärbte Räder mit einer Erinnerungstafel – dort auf, wo Fahrradfahrende bei einem Verkehrsunfall gestorben sind. Meist geschieht das innerhalb von zwei Tagen nach dem Unfall, manchmal dauert es länger. Danach bleibt das Rad bis zum Totensonntag des Folgejahres stehen. „Für mich war sofort klar, dass auch für meinen Sohn eines aufgestellt werden soll“, sagt Astrid Burkhardt. Hinterbliebene müssen dafür nichts tun, der ADFC kümmert sich eigenständig darum. Im März 2012 wurde ein Geisterrad für Jacob am Unfallort aufgestellt, bis in den Dezember blieb es stehen.

Susanne Grittner ist seit 1997 Mitglied des ADFC, sie arbeitet dort als Fachreferentin für Sternfahrten. „Seit anderthalb Jahren fahre ich die Geisterräder mit dem Lastenrad zum Unfallort. Das drückt Würde aus. Als Interessensvertreterin der Radfahrenden bin ich das den Verstorbenen schuldig“, sagt die 51-Jährige, die über ihr Engagement in Kontakt mit vielen Angehörigen kommt.

Zu jeder Geisterrad-Aufstellung gehört auch eine Mahnwache, die Grittner begleitet. Hinterbliebene, Freunde, aber auch Ersthelfer finden dort einen Rahmen, einander in ihrer Trauer zu begegnen. „Manche Angehörige kommen nach einem Verlust regelmäßig zu Mahnwachen“, sagt Grittner. „Für sie gehört es mit zur Verarbeitung, sich auf das Thema Verkehrstote einzulassen.“

„Es ist wichtig, jedem Fall Aufmerksamkeit zu geben“, sagt Susanne Grittner im ADFC-Velokiez.
„Es ist wichtig, jedem Fall Aufmerksamkeit zu geben“, sagt Susanne Grittner im ADFC-Velokiez.

© Marian Schuth

Für viele ist die Unfallstelle ein Ort des Gedenkens, wie auf dem Friedhof. An der Unfallstelle hat Jacobs Familie ein Kreuz aufgestellt. Wenn Burkhardt im ersten Winter nach dem Unfall von der Arbeit kam und der Friedhof schon geschlossen war, besuchte sie die Unfallstelle statt das Grab ihres Sohnes. Bis heute trifft sich die Familie dort an jedem Jahrestag des Unglücks.

"Ich konnte nicht über die Unfallstelle fahren"

„Ich war im Auto unterwegs, als ich das erste Mal unabsichtlich am Unfallort vorbeigekommen bin“, berichtet Burkhardt. „Ich war auf der rechten Fahrbahn. Ich musste die Spur wechseln, bin links rüber. Ich konnte nicht über die Unfallstelle fahren, nein, das ging nicht.“

Heute steht an der Unglücksstelle bereits das sechste Gedenkkreuz. Die alten wurden von Unbekannten entfernt, beschmiert, beschädigt. „Ich weiß nicht, warum jemand das macht“, sagt Burkhardt kopfschüttelnd. Ähnliche Probleme gibt es bei den Geisterrädern, berichtet ADFC-Fachreferentin Grittner. „Es werden Blumen geklaut, Leute treten gegen die Räder. Es gibt viel Vandalismus.“ Bei einem Rad in der Kantstraße wurde seit Februar 18 mal die Gedenktafel entfernt, berichtet sie. Einmal hing der Brief eines Anwohners am Rad. Der Verfasser beschwerte sich, dass das Geisterrad privates Gedenken im öffentlichen Raum sei und dort nicht hingehöre.

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Manchmal sind es aber auch die Angehörigen, die verlangen, dass ein Geisterrad wieder abgebaut wird. „Manche sagen, sie ertragen den Anblick nicht“, sagt Grittner. „Vor einiger Zeit haben wir eine E-Mail von einer Witwe bekommen. Sie hat geschrieben, wir würden das Unglück durch das Geisterrad missbrauchen. In solchen Fällen bauen wir das Rad natürlich sofort ab.“ Grittner wünscht sich vom Land Berlin bessere Hilfsangebote für Hinterbliebene. „Es braucht eine Ombudsperson des Landes, an die sich Angehörige wenden können“, sagt sie. Bislang ist ihre Forderung aber nicht erhört worden. Auch nach Einschätzung des Opferbeauftragten des Landes Berlin, Roland Weber, „hat sich da bis heute nichts geändert“. Der Ruf nach besserer Nachsorge für Angehörige bleibt bestehen.

Astrid Burkhardt hält Kontakt zu anderen Eltern, die ein Kind verloren haben 

Auch Burkhardt hätte sich nach Jacobs Tod mehr Möglichkeiten zur Seelsorge gewünscht. Eine Kollegin empfahl ihr den Verein „Verwaiste Eltern“ und sie begann, regelmäßig eine Selbsthilfegruppe in Reinickendorf zu besuchen. Acht Jahre ist das nun her, sie geht noch immer hin. „Da habe ich mich sofort gut aufgehoben gefühlt. So eine Gruppe wird immer von Eltern geleitet, die ebenfalls Kinder verloren haben. Jemand anderes kann das nicht.“

Egal wie lange es her sei, sagt Burkhardt, „ein Kind zu verlieren ist einfach…“. Sie stockt, denn dafür gibt es keine angemessenen Worte. Sie wird Jacob weiter mit Fotos und Erzählungen in ihrer Erinnerung halten. „Es hat gutgetan, über ihn zu reden“, sagt sie nach dem Gespräch. „Der Spaziergang zu ihm hatte danach eine gewisse Leichtfüßigkeit.“

Bis zum heutigen Gedenktag hat der ADFC in Berlin insgesamt 137 Geisterräder aufgestellt. So wenige wie möglich sollen folgen.

Marian Schuth

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