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FÜNF  MINUTEN  STADT: Gegen die Wand

An einem Mittwochabend im beginnenden Winter, gegen halb zwölf unweit des Mariannenplatzes in Kreuzberg. Es ist so kalt, dass der Atem kondensiert, der Atem der Schweigenden und der Atem der Sprechenden.

An einem Mittwochabend im beginnenden Winter, gegen halb zwölf unweit des Mariannenplatzes in Kreuzberg. Es ist so kalt, dass der Atem kondensiert, der Atem der Schweigenden und der Atem der Sprechenden. Auch der Atem einer Frau, die mit dem Telefon am Ohr betrunken aus einer Kneipe stolpert. „Nein, ich höre dir nicht mehr zu!“, ruft sie in den Apparat. „Jetzt hörst du mir mal zu!“ Sie wankt wie ein angeschlagener Boxer. Mitte Vierzig ist sie vielleicht, die Schminke ist verlaufen, die Frisur ein verlassenes Vogelnest. „Ich hasse dich, du Wichser!“, schreit sie. „Ich hasse dich!“ Sie presst das Telefon nun nicht mehr ans Ohr, sie hält es vor sich hin. Sie sendet und empfängt nichts mehr. Ob der Mann am anderen Ende sie überhaupt noch hört? Oder hat er längst aufgelegt, schon vor Minuten, irgendwo in einem beheizten Zimmer, weit entfernt vom Mariannenplatz, von dieser Frau? Sie spricht einfach weiter, das Telefon ist ihr Diktiergerät, sie spricht für ein Protokoll, das niemand jemals lesen wird. „Ich will nicht mehr mit dir zusammen sein“, sagt sie schließlich, deutlich leiser. Sie hat sich eine verbogene Zigarette angezündet. „Ich will nicht mehr mit dir zusammen sein, wenn du mich nicht wenigstens liebst“. Sie lässt das Telefon sinken. Man sieht den Rauch, ihren Atem. Dann lehnt sie sich, als wollte sie es übertreiben, gegen die Wand eines längst abgerissenen Hauses. Dirk Gieselmann

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