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In OMAS ZEITung (27): Glücksnummern

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: Oma Thea liefert das Glück mit der Zeitung ins Haus.

Jeder Mensch hat einen anderen Traum. Ein schickes Auto, ein gemütliches Heim, eine spektakuläre Reise – auch die West-Berliner des Jahres 1954 haben ihre großen und kleinen Wünsche. Am 5. Juni geht für 400 von ihnen ein Traum in Erfüllung. Bei der Lotterie des Berliner Scheckheftes werden im Großen Saal des Studentenhauses am Steinplatz die Gewinner gezogen. Und meine Oma Thea ist für die „Neue Zeitung“ dabei, als sich die Lostrommel dreht.

„Die Zuschauer, mit Scheckheften, Bleistift, Papier und Verpflegung ausgerüstet, waren von der ersten bis zur letzten Ziehungsminute ganz Auge und Ohr“, schreibt meine Oma. Aus 200 000 Losen werden in mehr als drei spannenden Stunden die Gewinner gezogen. Das Publikum feuert die Glücksfee, die Schauspielerin Susanne von Almassy, an, „erneut die Trommeln zu drehen, tiefer, mit der linken Hand oder mehr nach rechts zu greifen“. Auch meine Oma darf sich ein bisschen wie Fortuna fühlen: In ihrem Artikel veröffentlicht sie die Losnummern der Hauptgewinne. Die Leser bekommen mit ihrer Zeitung also auch das Glück ins Haus geliefert.

Trostpreis: eine Audienz beim Bürgermeister

Der Besitzer der Nummer 64 166 darf sich über „eine Zweieinhalbzimmerwohnung im Hochhaus am Roseneck“ freuen. Nicht ganz so toll, aber ebenfalls komplett möbliert und ein Jahr mietfrei, ist die „Zweizimmerwohnung in einem Lankwitzer Hochhaus“. Wer bei den Immobilien leer ausgeht, muss sich nicht automatisch als Verlierer fühlen. Auch die DKW-Limousine (Losnummer 124 427), der Messerschmitt-Kabinenroller (104 484) oder die Vespa (164 919) sind stattliche Preise. Wer West-Berlin endlich einmal entfliehen will, ist wahrscheinlich am besten mit Reisen nach Norwegen, ans Mittelmeer, an den Attersee oder „nach Übersee“ bedient. Die Kulturfreunde unter den Scheckheftbesitzern fiebern vermutlich der Ziehung der Gutscheine für die Bayreuther und Salzburger Festspiele entgegen. Für die Losnummer 49 116 bleibt immerhin noch ein Art Trostpreis übrig, „eine Zehnminuten-Audienz beim Regierenden Bürgermeister“.

Wer der glücklichste Mensch West-Berlins ist – der Besitzer von Los Nummer 16 923 –, kann meine Oma noch nicht verkünden. „Noch ist der Gewinner (oder die Gewinnerin?), der ein Jahr im Schlaraffenland leben darf, nicht bekannt“, schreibt sie. „Wer ist der Glückliche und wie wird ihm das fette Jahr ohne jegliche Miet-, Kleidungs-, Verpflegungssorgen und mit zusätzlichen Vergnügungs- und Erholungstagen bekommen?“

Die Veröffentlichung der Losnummern erfolgt ohne Gewähr. Nicht auszudenken, hätte meine Oma einen Zahlendreher in den Artikel gebaut und eine falsche Losnummer abgedruckt. Gerade denkst du noch, du ziehst ans Roseneck – und landest in Lankwitz. Oder, viel schlimmer, du wähnst dich für ein Jahr im Schlaraffenland. Und fährst dann doch nur zehn Tage an den Attersee.

Diese Kolumne ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

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