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Berlin: Gute Nachbarn sind der beste Schutz

Der schmale Grat zwischen Normalität und Gefährdung: Ein Besuch in der neuen Thoraschule in Mitte

Es ist ein täglicher Balanceakt zwischen normalem Leben und Sicherheit. Das Gefühl der Bedrohung ist in jüdischen Einrichtungen stets präsent. Ein Anschlag wie der auf die jüdische Kita am Spandauer Damm am gestrigen Sonntag ist jederzeit möglich. Besucher in der neuen Bildungsstätte auf dem Gelände der alten Synagoge in der Brunnenstraße bekommen von der Gefährdung wenig zu spüren. Ein Druck auf die Klingel, ein Blick durch den Spion, fertig ist der Sicherheitscheck. Die Türen öffnen sich. Noch sind nicht alle Bauarbeiten beendet, aber der Lehrbetrieb läuft schon: 50 Schüler von 16 bis 24 Jahren, überwiegend aus Osteuropa, lernen hier die Gesetze der Thora und des Talmud. Sechs von ihnen wollen selbst Rabbiner werden, die anderen einfach mehr über ihre Wurzeln erfahren.

Die Harmonie zwischen der Schule und ihrer Nachbarschaft scheint perfekt – wären da nicht diese anonymen Flugblätter, die unter Gewerbetreibenden in der Umgebung kursierten.

Rabbiner Joshua Spinner legt bei dem Thema die Stirn in Falten. „Das ist kein Thema für uns“, sagt er. Spinner ist Vizepräsident der amerikanischen Ronald S. Lauder Foundation, die jüdisch-orthodoxe Bildungseinrichtungen in Deutschland und der ehemaligen Sowjetunion betreibt. Weder er noch der jüdische Bauherr und Hausbesitzer Roman Skoblo wollen die Aktion überbewertet wissen, auch wenn starke verbale Geschütze aufgefahren wurden: Von Panzersperren rund ums Gebäude, zwölf Meter hohen Mauern gegen Scharfschützen und Autobomben auf dem Parkplatz der „Weiberwirtschaft“, die wie die Synagoge auf dem Grundstück des ehemaligen VEB Berlin-Kosmetik steht, war die Rede – Sicherheitsvorkehrungen, die die Kunden der umliegenden Geschäfte abschrecken könnten. Als Ansprechpartner wurden unter anderem der Bezirk Mitte und die Betroffenenvertretung Rosenthaler Vorstadt genannt. Katja von der Bey, Geschäftsführerin der „Weiberwirtschaft“, kennt die Flugblätter. Die „Weiberwirtschaft“ sei keineswegs beeinträchtigt, stellt sie klar. Im Gegenteil, endlich werde das verwahrloste Nachbarhaus nach 15 Jahren Leerstand instandgesetzt und belebt. Ähnlich sieht das Sabine Krusen von der Betroffenenvertretung, die sich seit Jahren für den Denkmalschutz der Synagoge einsetzt und deren Mutter selbst Jüdin war. Sie distanziert sich ausdrücklich von dem Pamphlet. „Die Synagoge war die letzte dieser Art, eine sogenannte Hinterhof- bzw. Privatsynagoge. Davon gab es vor dem Krieg über hundert in Berlin.“

Allerdings mussten einige Säulen – mit Genehmigung des Bezirksamts – dem Speisesaal der Bildungsstätte weichen. Hier wollen 50 Schüler, 15 Kinder und sechs Rabbiner mit ihren Familien koscher verköstigt werden. Der Alltag in der alten Synagoge umfasst Internat, Kindergarten, Wohnungen und Großküche. „Unsere Schüler sollen so normal leben wie alle anderen auch“, sagt Spinner. So sei es auch zuvor in der Rykestraße gewesen, bevor die Räume zu eng wurden für den Zulauf. Dort in Prenzlauer Berg hatte Spinner 2000 die erste Thoraschule in Deutschland nach dem Krieg eröffnet.

In der Brunnenstraße sind laut Eigentümer Skoblo nur die nötigsten Sicherheitsauflagen des Landeskriminalamtes umgesetzt worden: Poller entlang der Auffahrt in der Brunnenstraße und eine Mauer, die die Schule zwar vom Hof der „Weiberwirtschaft“ trennt, aber nicht vor Blicken aus den Konferenzräumen der Damen auf die Schlafsäle der Herren schützt. Die Kameras am Gebäude sind kaum sichtbar, der Wachschutz hält sich im Hintergrund.

Die Reaktionen der umliegenden Gewerbetreibenden reichen von verhaltenem Beobachten bis zu offener Sympathie. Da ist die Blumenverkäuferin, die bislang nur Notiz von den halbstündlichen Streifen genommen hat. Oder der türkische Friseurmeister, der sich über mehr Sicherheit freut. Auch neue Kunden habe er gewonnen: Die Schüler der Thoraschule hätten die Haare immer gern schön kurz unter der Kippa, sagt der Muslim Sercan Gürdal vom Salon „Jilah“.

Ein paar Häuser weiter in der Brunnenstraße hat Irene Rado, die ehemalige Köchin der Thoraschule, im November das „Café Rado“ eröffnet, eine Mischung aus Bistro und Lebensmittelladen. Es sei das einzige vom Rabbiner lizenzierte Café im Ostteil der Stadt. Hier kaufen die Schüler und Rabbiner ein, trinken einen Kaffee oder essen Pizza, Sandwichs, Suppen. Aber auch Anwohner und Passanten kommen, viele zunächst aus Neugier. „Unsere Nachbarn aus dem Elektroladen wussten zuerst nicht, was koscher ist. Am nächsten Tag kamen sie stolz wieder: Sie hatten im Internet nachgeschaut“, sagt Irene Rado. Viele Anwohner kauften auch koscheren Wein, einfach weil er ihnen gut schmecke. Auch nichtjüdische Geschäfte im Kiez werden in die koschere Lebensmittelproduktion eingebunden, zum Beispiel eine Bäckerei und eine Schokoladenmanufaktur, wo regelmäßig unter der Aufsicht eines Rabbinerhelfers Chargen koscheren Brotes (ohne Butter) gebacken und koscherer Schokolade (ohne tierische Fette) gefertigt werden.

In diesem Umfeld findet Joshua Spinner die anonyme Flugblatt-Aktion besonders perfide. Sobald die Umbauarbeiten abgeschlossen sind, will er die Tradition der Nachbarschaftsfeste aus der Rykestraße wieder aufleben lassen. Denn „gute Nachbarn sind der beste Schutz gegen Anfeindungen“.

Martha May

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