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Berlin: Hinrich Elvers (Geb. 1954)

Er versuchte, die Stimmen fortzuspülen. Und es wurden mehr.

In seinem Inneren verbarg sich ein sensibler Echoraum, der jeder noch so entfernten Stimme überdeutliche Präsenz zukommen ließ. In seiner Kindheit und Jugend war dieser Raum erfüllt von unzähligen Vogelstimmen, deren Zwitschern, Trällern, Pfeifen und Singen ihn begeisterte. Wo andere nur ein vielstimmiges Wald- und Wiesenorchester vernahmen, hörte er jede Nachtigall und jeden Finken heraus. Doch je älter er wurde, desto stärker drängten sich die anderen Stimmen in den Vordergrund. Er wusste nicht, woher sie kamen; manchmal waren sie freundlich, manchmal auch sehr böse. Und er war der Einzige, der sie zu hören vermochte.

Als Neunjähriger hockte er stundenlang vor der Voliere und beobachtete seine dreißig Prachtfinken, die er alle unterscheiden konnte. Gemeinsam mit dem Nachbarsjungen zog er früh um fünf zum Teufelsberg und kundschaftete Nester aus. Im Gebüsch hockend, lauschten sie dem Gesang der Vögel. Vier Stunden später in der Schule kniffen sie sich in die Unterarme, um über ihren Heften nicht einzuschlafen.

Hinrich war 13, als seine Mutter plötzlich starb. Ihr Tod traf ihn schwer. Dass für ihn neben den Vogelstimmen noch andere Stimmen existierten, behielt er lange Zeit für sich. Für seine Freunde war er einfach der schüchterne, hoch gewachsene und mit einem enormen Gedächtnis ausgestattete Vogelfreund, dessen Kenntnis auch Ornithologen in Erstaunen versetzte. Bald nach dem Abitur stellte er sich am Institut für Ökologie der TU vor und wurde sogleich mit Feldstudien beauftragt. Während seines Studiums der Germanistik und Biologie lebte er vornehmlich von vogelkundlichen Gutachten für den Berliner Senat.

Sein Schreibeifer stand seiner Beobachtungsgabe kaum nach, er veröffentlichte einen Fachtext nach dem anderen. Doch litt er zunehmend unter dem Arbeitsdruck. Die Stimmen, die er hörte, drängten so grausam herauf und blieben so widerspenstig in seinem Kopf, dass er sie mit Alkohol wegzuspülen versuchte. Vergeblich, es wurden nur noch mehr.

Sie plauderten aus dem Nichts drauflos, als habe er sie zum Kaffeeklatsch eingeladen, und in der nächsten Sekunde verwandelten sie sich in konspirative Geheimdienstler, die ihm mit bohrenden Fragen zur Vergangenheit zusetzten. Oft ging er in den Grunewald, um sich beim melancholischen Gesang der Heidelerche zu entspannen. Mittlerweile glaubte er, die Vögel riefen ihn direkt an. Er begann Dialoge mit ihnen zu führen. Seinen Freunden von der Ornithologie erzählte er nichts davon. In Gesprächen wunderten sie sich zwar über seine gelegentlichen Absencen, aber er war recht schnell wieder bei der Sache.

Als er mit Mitte 30 bewusstlos und betrunken aufgefunden wurde, fand sich endlich Hilfe. Er kam auf die Sucht- und Psychosestation in Havelhöhe. Der Veröffentlichungsdruck und die Arbeitsanspannung fielen von ihm ab. Nach drei Jahren intensiver Therapie zog er in eine betreute Wohngemeinschaft. Die Stimmen und die innere Unruhe aber blieben. Hatte er seine Nervosität zuvor mit seiner flinken Beobachtungsgabe synchronisiert, der kaum ein Detail eines knatternden, wellenförmigen Vogelflugs entging, so suchte er sich nun in Kaffee und Nikotin neue Verbündete.

Zu den Landpartien ins Berliner Umland, auf die er von den alten Freunden eingeladen wurde, kam er gerne mit. „Geht in die Natur, geht mit Pflanzen und Tieren um, das könnte euch helfen“, schrieb er in einer Zeitschrift für Stimmenhörer und berichtete über seine Erfahrungen als Stimmenhörer und Ornithologe.

Dem jahrelangen Dauergenuss von Zigaretten und Zigarillos hielt seine Lunge nicht stand und kollabierte. Am liebsten wäre er neben Heinrich Zille beigesetzt worden, denn oft kam er sich selbst vor wie einer von dessen gezeichneten sozialen Außenseitern. Aber der Platz neben seiner Mutter war schon reserviert.

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