Berlin: Keine Rauchwolke in Sicht
Hoch oben war die Stadt so fern. Natalie, zu Besuch aus Hamburg, wollte nicht glauben, dass fünf Minuten Spaziergang durch eine Mini-Gebirgslandschaft so viel Abstand bedeuten können.
Hoch oben war die Stadt so fern. Natalie, zu Besuch aus Hamburg, wollte nicht glauben, dass fünf Minuten Spaziergang durch eine Mini-Gebirgslandschaft so viel Abstand bedeuten können. Unten hatte die Studentin kurz nach zwölf im Autoradio am Schöneberger Kreuz noch die warnende Stimme gehört, dass halb Kreuzberg abgesperrt sei. Das klang dramatisch. In der Kreuzbergstraße, als immer noch keine Absperrung in Sicht war, stieg sie aus dem Auto, kletterte am trocken gelegten Wasserfall den Kreuzberg empor. Von den Stufen des Denkmals aus genoss sie mit einer Freundin den Ausblick, die milde Luft, und den ersten Maitag des Jahres. Kreuzberg und die ganze Stadt lagen friedlich unter ihnen, kein Sirenengeheul drang nach oben, keine Rauchwolke war zu sehen, Es schien, als seien die Meldungen der nächtlichen Krawalle nur ein Spuk gewesen.
Es waren nicht viele, die es ihr gleichtaten, am Mittwochmittag. Am Denkmal saßen sie, lasen, blinzelten in die Sonne, die sich hin und wieder zeigte, ließen sich fotografieren, oder legten sich auf die Liegewiese, die noch von den Müllresten eines vorabendlichen Festes übersät waren. „Ich will mir den Maitag nicht verderben“, sagte einer der älteren Spaziergänger, früher habe man wirklich noch frohen Herzens in den Mai tanzen können. Und seine Frau meinte, es sei sonst mehr los hier, aber die Leute der Umgebung trauten sich an einem Tag wie diesem gar nicht mehr aus dem Haus, oder sie gingen vielleicht zu den Neuköllner Maientagen, auf das Bergmannstraßenfest, oder zum Spazieren in den Britzer Garten, wie es Tausende andere an diesem Tag taten. Aber der Kreuzberg selbst war merkwürdig ruhig, und die Spaziergänger fanden es etwas bedrückend.
Dass der erste Maitag auch ein Grund ist, zu entspannen, den Frühling zu genießen und alle Gedanken an Krawall und Randale zu verbannen, zeigten gut besuchte Ausflugslokale, zahlreiche Volksfeste und die Masse von Spaziergängern im Volkspark Friedrichshain, im Tiergarten, am Müggelsee oder rund um Havel und Grunewaldseen. Im Tiergartener Café am Neuen See, das einer der Seismographen für die allgemeine Stimmungslage eines trocken-milden Tages ist, freute man sich über einen guten Besuch, und die Gäste des großen Biergartens wollten über alles andere als Krawalle reden. Kreuzberg und Prenzlauer Berg waren fern, und die Gastronomen erwarteten noch mehr Besucher, wenn erst Teilnehmer der beendeten DGB-Demo vorbeikämen. Das sei auch im letzten Jahr so gewesen. Nur das junge Mächen am Bootsverleih wunderte sich, dass es innerhalb von zwei Stunden nur fünf Boote auf die Reise schicken konnte, aber die Leute trauten dem Wetter nicht recht über den Weg.
Über ein wenig mehr Sonne hätten sich auch Tierpark und Zoo gefreut. Aber die Besucherzahlen waren – wie auch im Botanischen Garten – kein Grund zur Klage. Allein in den Zoo kamen knapp 10 000 Gäste, damit war fast ein Spitzenwert vom letzten 1. Mai erreicht, und die Warteschlangen reichten ein beachtliches Stück in den Hardenbergplatz hinein. Am nahen Breitscheidplatz hielt sich die Zahl der Passanten in Grenzen, die Gastronomie hatte aber gut zu tun. Doch auch hier war, wie in der gesamten Innenstadt zwischen Kurfürstendamm und Alexanderplatz, eine ruhige Gespanntheit zu spüren. Dass alles anders war als sonst, ließ sich nachmittags am ständigen Hubschrauberlärm erkennen.Christian van Lessen
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